Zum Inhalt springen

Wissenschaft & Glaube Oder Die (Ir)Relevanz der Wahrheit

Autorin: Marie-Luisa Glutsch

In der Politik ist das Äquivalent einer gänzlich entwickelten wissenschaftlichen Theorie, eines gänzlich entwickelten philosophischen Systems die totalitäre Diktatur.1

Aldous Huxley

In einer Zeit wie unserer, in der Wissenschaftlichkeit – wie kein anderes – als Kriterium für stichhaltiges Argumentieren gilt und in der von vielen Menschen die stärkere Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse in politische Entscheidungen gefordert wird, sind diese Worte starker Tobak.

Egal, ob es um Covid-19 oder um die Klimakrise geht: Die größten aktuellen Herausforderungen der Menschheit scheinen nur mithilfe der Wissenschaft bewältigbar zu sein. In einer Welt, in der die Wissenschaft eine so fundamentale Bedeutung besitzt und von so immensem Wert ist – in so einer Welt verwundert es nicht, dass Kritik an Wissenschaft und an wissenschaftlichen Erkenntnissen auf immensen Widerstand stößt.

Tatsächlich soll es in diesem Artikel nicht um die Infragestellung wissenschaftlicher Erkenntnisse gehen, sondern um alles dazwischen, um die feinen, wissenschaftlich nicht adäquat abbildbaren Zwischentöne. Es soll um den Brei gehen, der die Fakten umhüllt, um die nicht-faktische Kontextualität, um das Gespinst, das aus Fakten und Gefühlen gesponnen wird zu einem stringenten roten Faden: Um das Narrativ. Das Narrativ stammt vom lateinischen narrare, erzählen. Ein Narrativ ist grob gesagt eine Erzählung, die verbreitet wird, die „sinnstiftend ist, Werte und Emotionen vermittelt und erklärt, wie die Weltordnung sich zusammensetzt“.2

Nahezu alles kann ein Narrativ sein. Und Narrative können einander vollkommen entgegenstehen: Sex is real. Trans women are women. #metoo. #notallmen. Black lives matter. All lives matter.

Diese beispielhaften Narrative sind natürlich nur Slogans, hinter denen ein komplexes Gebilde an Deutungsmustern steht. Was aber aus diesen gegensätzlichen Beispielen hervorgeht ist, dass das Wort Narrativ offenlässt, ob es sich um eine wahre oder unwahre Erzählung handelt. Das ist durchaus nicht ungewollt, verweist es doch darauf, dass Narrative ihre Wirkkraft entfalten, unabhängig davon, welcher Wahrheitsgehalt ihnen zugrunde liegt.

Das Wort Narrativ enthält außerdem einen Verweis auf eine*n Erzähler*in, denn eine Erzählung braucht immer (mindestens) eine Person, die sie verbreitet. Im Wort selbst steckt jedoch nur bedingt jemand, der das Narrativ rezipiert. Ein Wort, das besser ausdrückt, was bei den Rezipierenden passiert, ist der Glaube.

Narrative werden geglaubt, egal ob aufgrund von eigener Erfahrung, weil sie wissenschaftlich überprüft wurden, aufgrund von moralischen Überzeugungen oder weil die Narrative so in unsere kulturelle Erziehung eingeschrieben sind, dass wir sie nicht einmal als solche identifizieren. Das Wort Glaube ist so mit religiösen Konzepten verlinkt, dass es für atheistische Menschen mit einem starken Wissenschaftsbezug schwierig sein kann zu akzeptieren, dass sie Dinge glauben. Wissenschaft und Glaube werden als sich gegenseitig ausschließende Feinde konzipiert. Wenn Klimaleugner*innen so etwas sagen wie: „Ich glaube nicht an den menschengemachten Klimawandel.“, ist die gängige Reaktion etwas in der Art von: „Da gibt es nichts zu glauben. Der Klimawandel existiert und ist menschengemacht. Das ist wissenschaftlich nachgewiesen.“

Es ist kein Wunder, dass in solchen Kontexten eine Aussage wie „Der menschengemachte Klimawandel ist ein Narrativ“ oder „Ihr glaubt an den menschengemachten Klimawandel“ auf großen Widerstand stoßen würde – schließlich gibt es wissenschaftliche, fundierte Gründe für diese Überzeugung und gegen den Unglauben an den menschengemachten Klimawandel.

Was aber ist mit Fragen wie: Wer ist eigentlich ‚schuld‘ am Klimawandel? Die Konzerne, die die Umwelt verpesten? Die Politiker*innen, die sich davor scheuen drastische politische Maßnahmen zu ergreifen? Wir, also alle wahlberechtigten Bürger*innen, weil wir besagte Politiker*innen in ihr Amt wählen und selbst nicht genug auf unseren ökologischen Fußabdruck achten?

Diese Fragen sind wesentlich weniger einfach zu beantworten. Viele Menschen werden vermutlich eine Tendenz haben, welche Antwort ihnen am plausibelsten erscheint. Aber letztendlich verhandeln wir als Gesellschaft darüber, wem wir die Schuld geben (oder ob wir überhaupt irgendjemandem die Schuld geben).

Simplicissimus hat in einem seiner neuesten Videos aufgedeckt, dass die Erfindung des ökologischen Fußabdrucks auf die Werbekampagne von BP, einem der größten Mineralölunternehmen und umweltverschmutzendsten Konzerne der Welt zurückgeht.

Mit vielversprechendem Erfolg: Das Konzept wird bis heute verwendet, um Menschen auf ihren persönlichen Beitrag zum Klimawandel hinzuweisen, was – wie es von Simplicissimus gedeutet wird – reine Ablenkung von den „wahren Schuldigen“, nämlich den großen Konzernen ist.

Wir alle glauben irgendetwas. Und es lohnt sich zu hinterfragen, was wir glauben, ohne dabei zwangsläufig nur Wissenschaftlichkeit als Kriterium zu benutzen.

Die Frage Cui bono? – Wer profitiert eigentlich davon? – wie im Falle des ökologischen Fußabdrucks, ist eine von vielen möglichen richtungsweisenden Fragen (die aber im Extremfall völlig über das Ziel hinausschießen kann, siehe Verschwörungstheorien).

Eine andere Frage könnte lauten: Warum fühle ich mich besonders angegriffen, wenn jemand meine Meinung zu xy infrage stellt? Starke Emotionen geben Hinweis auf felsenfeste Überzeugungen. Wie sähe eine Alternative zu xy aus? Herumzuspinnen, wie ein alternatives Narrativ klingen würde, kann manchmal aufschlussreich sein: Wieso zum Beispiel gibt es die Unterstellung, Frauen würden sich „nach oben schlafen“, wenn sie eine höhere Position erhalten statt der Vorstellung, dass Männer in Machtpositionen ihre Stellung ausnutzen, um Angestellte zu sexuellen Handlungen zu zwingen („Du bekommst die Gehaltserhöhung nur, wenn…“)? Ein weiteres Beispiel für eine alternative und überraschende Erzählung im Rahmen gesellschaftlicher Beobachtungen findet ihr hier.

Und schlussendlich: Was, wenn ich mich irre? Was, wenn ich Unrecht habe?

Diese letzte Frage läuft im Grunde auf zwei Gedanken hinaus. Zum einen können wir uns mithilfe dieser Frage der Konsequenzen bewusstwerden, die sich im schlimmsten Fall aus unserem Denken oder Handeln ergeben: 

„Ja, wir könnten jetzt was gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schön ärgern.“3

Zum anderen geht es um die Suche nach der ‚Wahrheit‘ und den Stellenwert, den die (wissenschaftlich begründete) ‚Wahrheit‘ in unseren Debatten einnimmt: Steven Crowder hat 2018 auf seinem Youtube-Kanal eine Folge hochgeladen mit dem Titel: There are only 2 Genders (2nd Edition) | Change My Mind, in welchem er fremde Menschen dazu einlädt, seine Überzeugung, dass es nur zwei Geschlechtsidentitäten gibt – männlich und weiblich – zu verändern.

Er selbst beruft sich auf wissenschaftliche Argumente und Daten, um gegen die Existenz weiterer Geschlechtsidentitäten zu argumentieren. Danielle, eine trans woman und die erste Person, die sich im Video zu ihm setzt, fasst ihre Erfahrung wie folgt zusammen: „Now, like why I’m trans? To be honest with you, I don’t know, right? Now, it took me 37 years to stop fighting what I knew to be true from the earliest ages as a child […].” Steven Crowder befragt sie anschließend, woher sie denn weiß, dass das die ‚Wahrheit’ ist, wobei er selbst auf einer rein biologischen Basis argumentiert und auch nur rein biologische Fakten gelten lässt. Danielles ‚Nicht-Wissen‘ wird von ihm als argumentative Schwäche ausgelegt, die sie aus seiner Sicht durch kein subjektives, emotionales Argument oder soziologisches Konzept adäquat füllen kann.


1 S. 28-29, Aldous Huxley, Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt

2 https://kultur-und-gestalt.de/was-ist-ein-narrativ/

3 https://www.myzitate.de/die-kanguru-chroniken/

weiterlesen

Seiten 1 2

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert