Pflege und Vorurteil
Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Krankenpflege gibt interessante Hinweise, woher die Vorurteile und Geringschätzung rühren. In ihrem Artikel „Krankenpflege im Professionalisierungsprozess“ zeichnet Dr. Eva-Maria Krampe die Entwicklung des modernen Pflegeberufs nach.
Mit dem Aufkommen von staatlicher Kontrolle im Gesundheitswesen und der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin stieg der Bedarf nach qualifiziertem Hilfspersonal. Während zur Jahrhundertwende des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl Männer als auch Frauen in der Pflege arbeiteten, wurden Männer zunehmend aus dem Pflegeberuf gedrängt und der Pflegeberuf in die bürgerliche Ideologie des 19. Jahrhunderts integriert. Von da an wurde versucht, bürgerliche Frauen für den Pflegeberuf zu gewinnen, da dieser vor allem „weibliche Tugenden“ anspreche. Der Pflegeberuf wurde auf diese Weise „weiblich“ codiert, was wiederum dazu beigetragen hat, Fürsorge und Pflege als „weibliche“ Tugenden und Tätigkeiten zu etablieren.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde von staatlicher Seite sowohl in West- als auch in Ostdeutschland versucht, das Bild von der „weiblichen Pflege“ zu brechen, um auch Männer für den Beruf zu gewinnen (schon damals herrschte Pflegemangel). Trotz Anreizen für Männer scheiterten die staatlichen Initiativen: Das Bild der Pflege als weibliche Profession hielt den Werbeversuchen stand. Während es zwar einen wachsenden Anteil von männlichen Pflegenden gibt, so waren 2010 jedoch immer noch 86% der Pflegenden Frauen und nur 14% Männer. Männer nehmen dabei überdurchschnittlich oft Führungspositionen innerhalb der Pflege ein, bleiben kürzer im Beruf oder qualifizieren sich im Laufe ihres Berufslebens für andere Berufe.
Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass der Pflegeberuf weiterhin „weiblich“ codiert ist. Die Konstruktion der „Krankenschwester“ wird explizit und implizit kulturell wieder und wieder reproduziert. Explizit, indem mit dem Beruf Weiblichkeit assoziiert wird, wie beispielsweise in Quentin Tarantinos Film Kill Bill 2 oder in Serien wie Emergency Room und Scrubs. Implizit, indem der Pflegeberuf mit Vorstellungen assoziiert wird, die als „weiblich“ gelten: So stemmen Frauen trotz Emanzipationsdebatten und feministischer Kämpfe weiterhin einen Großteil der familiären Pflege von älteren Angehörigen und Kleinkindern und nehmen länger und häufiger Elternzeit.
Erziehung, Hausarbeit, Angehörigenpflege: Unbezahlte Arbeit wird immer noch zum großen Teil von Frauen geleistet. Einer Studie der Süddeutschen Zeitung zufolge verrichten Frauen in Deutschland 105 Minuten mehr unbezahlte Tätigkeiten als Männer, im OECD Schnitt sogar 148 Minuten. Unbezahlte Tätigkeiten: das heißt Kochen, Putzen, Einkaufen, Kinderbetreuung usw. Und auch wenn Paare sich vornehmen, zu gleichen Teilen Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, so nimmt die partnerschaftliche Verteilung der Arbeit im Laufe der Beziehung kontinuierlich ab, wie der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zeigt.
In marxistischer Tradition lassen sich all diese Arbeiten auch als Reproduktionsarbeit bezeichnen: Sie sind notwendig, damit die gesellschaftliche Produktion möglich wird. Ohne Pflege können kranke Menschen nicht oder wesentlich später wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, ohne Kindererziehung gibt es keinen „arbeitsmarktkonformen“ Nachwuchs.
All diese Pflege- und Fürsorgetätigkeiten werden von Frauen als selbstverständlich abverlangt, während Männer Anerkennung dafür bekommen, wenn sie Pflegetätigkeiten übernehmen: So wird der junge, kinderwagenschiebende Vater als aufgeschlossen bewundert, was bei einer Mutter als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Und geht etwas in der Erziehung schief, so liegt es an der „Rabenmutter“. Ein männliches Begriffspendant dazu existiert noch nicht einmal.
Eben so, wie diese Reproduktionsarbeit als selbstverständlich von Frauen verlangt wurde und immer noch wird, nicht oder nur schlecht bezahlt wird und nicht angemessen wertgeschätzt wird, so wird die professionelle Pflege mit dieser Reproduktionsarbeit assoziiert und entwertet. Nicht, weil Frauen weniger wert sind als Männer, sondern weil der Arbeit von Frauen gesellschaftlich und ökonomisch weniger Wert beigemessen wird. Die Frage nach gerechter Entlohnung und Anerkennung in der Pflege ist somit zu großen Teilen eine Frage der Gleichstellung von Frau und Mann.
Anerkennung in der Pflege, die viele Pflegende fordern, kann also erst dann vollständig erreicht werden, wenn unbezahlte Fürsorgetätigkeiten gleichwertig von allen Menschen übernommen werden und nicht mehr für selbstverständlich, sondern für systemrelevant und gesellschaftlich wertvoll gehalten werden. Diese Aufwertung würde positiv auf die Pflege als Beruf zurückwirken. Wenn männliche Rollenbilder sich so weit verändern würden, dass Männer selbstverständlich Reproduktionsarbeit wie Kindererziehung und Pflege von Angehörigen zu gleichen Teilen wie Frauen übernähmen, fänden sich sicherlich auch mehr männliche Pflegende in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Und wenn alle Menschen gleichwertig Pflegetätigkeiten in ihrem privaten Umfeld übernähmen, brächten sie womöglich auch mehr Empathie für Menschen auf, die professionell Menschen pflegen und auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit jede*r von uns früher oder später einmal angewiesen sein wird.
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Hier geht’s zu dem von einem Medizinstudenten verfassten Artikel “Fakten und was daraus gemacht wird”, der sich mit der Verbreitung medizinischer Fakten und Studien zu Zeiten der Corona-Pandemie beschäftigt.
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