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Körper-Kontakt in Blick und Bildschirm – Anthropologie einer zoomenden Gesellschaft?

Was ist dieses Ich, dass auf einem Desktop, in einer Videokonferenz so effizient mit Anderen Bildschirm-Ichs in Kontakt tritt? Was ist es im Verhältnis zu dem Körper-Ich, das da erschöpft auf dem Schreibtischstuhl hockt, das die Beine übereinandergeschlagen hat, das nach der dampfenden Teetasse greift? Hat nicht Foucault in „Der utopische Körper“ zurecht behauptet, dass der Körper der einzig unhintergehbare Ort sei, den wir nie zurücklassen können?7 Was aber ist dann das Verhältnis des physisch raumgreifenden Körpers zu dem zweidimensionalen Torso, dessen Gesichtsausdruck, versehen mit einem Namensetikett, neben anderen Zoomkacheln angesiedelt ist und zeitversetzt für andere Leiber an kilometerweit entfernten Orten sichtbar wird? Ist das Subjekt nicht gezwungen, sich mit diesem Ich zu identifizieren? Kann es das überhaupt? Ist es hier und dort zugleich?

Im analogen Miteinander wollen wir bestimmte Wirkungen auf andere erzielen. Wir versuchen einladend zu lächeln, aufrecht zu stehen, die Gesten der Anderen zu kopieren, zupfen permanent unsere Kleidung oder unsere Haare zurecht. Vor einem uns wichtigen Treffen werfen wir einen prüfenden Blick in den Spiegel und manche sind geradezu fasziniert davon, zwischendurch in reflektierenden Oberflächen Blicke auf sich selbst zu erhaschen. Wir verfügen über Erfahrungswerte, wie Menschen wann auf uns reagieren. Aber für gewöhnlich bleibt unsere Idee von der Wahrnehmung, die andere von uns haben, auf flüchtige Spiegelbilder unserer Körper beschränkt. Wir haben keine externe Sicht auf uns selbst, vermögen es nicht, den Blick der Anderen zu (re)konstruieren. Der Zoom-Raum aber besteht aus Kontrollmonitoren, die uns ermächtigen, in jeder einzelnen Sekunde zugleich unser Bild und den vermeintlichen Blick und die Reaktion der Anderen auf uns wahrzunehmen. Vermeintlich, da wir zwar in gewisser Weise sichtbar, aber nicht ‚blickbar‘ werden. Im Videoraum versiegen Blicke, treffen Blicke auf Monitore und Maschinen, die nur die Illusion eines Sich-gegenseitig-Anblickens erzeugen. Und immer leicht zu spät kommen. Das Subjekt weiß nicht mehr, ob es in die Kameralinse schielen oder die Augen im Bild der Anderen fokussieren soll. Aus welchem Winkel fühlt sich das (Schein-)Gegenüber am ehesten gesehen? Was ist das Gegenüber dem Ich? Wie geht es mit ihm um? Und was sieht es, wenn es das Ich sieht? Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Webcam würde nicht mehr, nichts anderes erzeugen als der Spiegel – ein Abbild eines Selbst. Aber das stimmt nicht: Der Spiegel reflektiert, der Bildschirm projiziert. Ersterer mag zur Kontemplation einladen, letzterer zur Zerstreuung, zur Diffusion, zur Abstraktion. Der Bildschirm vervielfältigt und verbreitet Information, Pixel eines Gesichts. Es geschieht mittels dieses distribuierten Abbilds, das Menschen in Kommunikation treten. Oder? Ein Bildschirmbild, das so nah und nahbar scheint. Das Gegenüber meint es mit der Fingerspitze schon berühren zu können, da stößt sie bloß auf Oberfläche. Das Bildschirmbild der Anderen ist nicht zu greifen. Durch Berührung, da sind sich Tastsinnforscher*innen einig, erhält der Mensch unzweifelhaftes Zeugnis der eigenen Lebendigkeit. Berührung zu erfahren, das ist lebensnotwendig. Und zugleich potenziell tödlich, woran wir über die vergangenen Monate so schmerzlich erinnert wurden. Auf der anderen Seite lassen uns diese Bilder, diese Stimmen, auch in der ontologischen und emotionalen Verwirrung, die sie erzeugen können, weniger allein sein, als wir es ohne sie wären. Sie ermöglichen gar, Menschen, die sonst unerreichbar wären, sichtbar, hörbar, virtuell-präsent (?) zu machen. Und dennoch: immer häufiger erklingen in meinem Umfeld Sätze wie: „Wenn wir einander dann endlich wieder in die Arme schließen können …“.

Jean Baudrillard befürchtete, dass Menschen im zunehmend virtuellen Zeitalter aufhören würden, miteinander zu reden, dass das, was er bloßes Kommunizieren nennt, ihnen einfacher erscheinen würde als das analoge Aufeinandertreffen.8 Ein Jahr der Pandemie lässt mich andere Schlüsse ziehen – es ist die Rede von „Zoom Fatigue“, eine App wie Clubhouse, die zumindest keine Bilder mehr erzeugt, boomt. Festivals könnten den Status postpandemischer Utopien erlangen – unausweichliche Nähe, tanzende, pogende, schwitzende, stinkende Körpermassen, mangelnde sanitäre Anlagen, Spiegellosigkeit und ein überlastetes Mobilfunknetz, das virtuellen Zugriff verweigert.

Eine nie zuvor gekannte Sehnsucht nach Körperlichkeit, nach Berührung, nach der Präsenz der Anderen und der Versicherung des eigenen subjektiven Status und der eigenen Lebendigkeit greift um sich.


7 Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 23.

8 Baudrillard, „Videowelt und fraktales Subjekt“, S. 130.

Weiterlesen?

In seinem Artikel „Der letzte Blick – Verabschiedung via Zoomgeht Eduard darauf ein, wie genau sich unsere Abschiedsrituale im Virtuellen gestalten.

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