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Die unerträgliche Gewissheit um die Ferne der verdunkelten Nähe

Autorin: Nana Tigges

Immer wieder ereilen mich Berichte von Zoom-Seminaren, während der irgendwer kurzzeitig vergisst, den Porno im Neben-Tab auf stumm zu schalten, die Nachbar*innen Schlager erschallen lassen oder leidenschaftlich Putzpläne diskutiert werden, während alle digitalen Mithörer*innen peinlich berührt lauschen, bis die dozierende Person es endlich geschafft hat, das entsprechende Lautsprecherzeichen zu orten und den oder die Störenfried*in zu muten.

Das Aufregendste, was in meinen Seminaren für gewöhnlich passiert, ist, dass irgendein besonders intellektueller und rebellischer Philosophiestudent (ja, hier habe ich absichtlich nicht gegendert), der einen minutenlangen Monolog hält, den man inhaltlich auf drei Sätze hätte verkürzen können (vertraut aus Prä-Pandemie-Zeiten) nun zusätzlich noch genüsslich an seiner Zigarre (!!!) nagt, während er die ungewaschenen Füße auf dem ungewaschenen Schreibtisch drapiert hat, sich dabei betont lässig-lasziv in seinem schulterlangen, strähnigen Haar herumzwirbelt und es hin und wieder gar heroisch zurückwirft. Den anderen ‚sexy‘ Moment mag es vielleicht noch geben, wenn ich bei meinen unbeholfenen Versuchen mich auf dem Sofa in eine halbwegs bequeme Sitzposition zu rücken (vor der Infrarotlampe, die bei ausgefallener Heizung meinen Rücken wärmt, und mit gutem Zugriff auf die Kaffeetasse auf der Fensterbank hinter mir) die Web-Cam in keinesfalls taktischem Manöver, sondern durch bloße Unbeholfenheit mein Dekolleté statt mein Gesicht filmen lasse. Ansonsten sind Zoom-Seminare recht ereignislos und unspektakulär und die Menschen, die etwas anderes behaupten, übertreiben sicher nur, um meinen Neid zu wecken. Wer im Seminar Spannung will, darf nicht an Oberflächlichkeiten kleben. Er oder sie muss tiefer blicken. Denn sie ist da – die ungeahnte Intimität mit den Anderen, die nur knapp verwehrt wird.

In den ersten Online-Seminarsitzungen habe ich meine Aufmerksamkeit noch vollkommen auf die Kommiliton*innen gerichtet, die ihre Kameras anließen, habe versucht aus ihren Gesichtsausdrücken schlau zu werden, die Titel der Bücher im Regal hinter ihnen zu entziffern (und ja, neuerdings verfügt jedermensch über eine – gemietete [?] – Bücherwand) und darüber nachzudenken, was die Inneneinrichtung über ihren Musikgeschmack aussagt. Aber da sind ja noch die anderen zwei Drittel des Seminars, die Selbstinszenierung kategorisch ablehnen und einen stattdessen auf gähnende Leere, gähnende schwarze, weiße, graue Kacheln starren lassen. Nicht auf ihre strahlenden Torsi, nicht auf ihre Seelen, sondern in Digitalabgründe, die mutmaßlich Abgründigkeiten verkleiden, die ich mir gar nicht ausmalen möchte und es gerade darum natürlich doch tue: meine Undercover-Kommiliton*innen, die sich auf verkrümelten Betten fläzen, Badkacheln abschaben, Nasenhaare trimmen, oder wahrscheinlich nur in nebenstehenden Tabs in weiteren Telekommunikations-Kanälen versinken. All die privatesten aller privaten Momente rücken auf einmal in unbegreiflich greifbare Nähe. Zwei in Hektik oder motorischer Schläfrigkeit verfehlte Klicks auf der Tastatur oder ein einziger wandelnder Kater trennen sie und mich von verwuschelten, mit Spliss versehenen Haarspitzen, ungeputzten Kloschüsseln und verstaubten Bierflaschen unterm Sofa. Das heimliche Nasebohren im Analog-Seminar kann gegen Klositzer*innen mit Macbook auf den Knien doch einpacken. Tröstlich, dass noch in der scheinbar schrecklichsten Ferne solche Nähe zu erahnen ist. Schade, dass sie letztlich nur der eigenen Imagination überlassen bleibt?

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