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Belarus: 950 Kilometer sind nicht viel

Es entstand ein zunehmender Konflikt zwischen einer immer moderneren Gesellschaft und dem autoritären, an Sowjetzeiten erinnernden System, das den Menschen kaum Freiheiten ließ. 2020 ist dieser Konflikt dann aufgebrochen. Denn indem Lukaschenka das Coronavirus leugnete und den Leuten empfahl als Heilmittel Wodka zu trinken, statt Masken zu tragen, cancelte er den sozialen Vertrag, der das Land zusammenhielt. Die Leute merkten natürlich, dass das falsch ist und organisierten sich selbst im Kampf gegen das Virus. Und dann gab es noch Leute wie Sjarhej Zichanouski: Ein Videoblogger, der durch das Land reiste und die Unzufriedenheit der Menschen im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage zeigte. Er kündigte an, 2020 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Lukaschenka antreten zu wollen und wurde verhaftet. Doch statt klein beizugeben, kandidierte einfach seine Frau Swjatlana Zichanouskaja. Sie tat sich mit Weranika Zapkala, der Ehefrau des nicht zugelassenen Oppositionskandidaten Waleryj Zepkala und Maryja Kalesnikawa zusammen, der Wahlkampfmanagerin des inhaftierten Kandidaten Wiktar Babaryka zusammen. Durch die drei Frauen gab es erstmals eine geeinte Opposition in Belarus, doch Lukaschenka nahm sie nicht ernst und sagte im Wahlkampf, dass Belarus nicht bereit sei, von einer Frau regiert zu werden.

Doch man darf wohl annehmen, dass Zichanouskaja die Wahl am 9. August 2020 gewonnen hätte – wenn  Lukaschenka sie nicht zu seinen Gunsten manipuliert hätte. Der Rest ist Geschichte: Hunderttausende gingen im Herbst auf die Straßen. In den staatlichen Fabriken wurde gestreikt. Und nicht nur die jungen Gebildeten protestierten, sondern Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Überall war als Zeichen des Protests die weiß-rot-weiße Fahne zu sehen – und alle forderten sie den Abtritt von Lukaschenka.5

Die belarusische Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja (Foto: Serge Serebro/Vitebsk Popular News/commons.wikimedia.org)

Dieser unterdrückte die Proteste mit extremer Polizeigewalt – derzeit ist Belarus weltweit das Land mit den meisten politischen Gefangenen im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl! Doch auch wenn die Proteste fürs erste gescheitert sind und Lukaschenka weiterhin an der Macht ist, so ist das Land seit dem vergangenen Jahr ein anderes. Die belarusische Gesellschaft ist vereint aufgestanden – die Proteste sind eine kollektive Erfahrung, die die Gesellschaft auf Jahre hinaus prägen wird. Denn nun gibt es die Vision eines Belarus ohne Lukaschenka.

Wir tragen eine historische Verantwortung gegenüber Belarus

Bei vielen Menschen in Deutschland ist das Land im vergangenen Jahr auf der mentalen Landkarte aufgetaucht. Und zwar als Belarus und nicht mehr als Weißrussland. Gerade wir sollten nun Verantwortung übernehmen. Denn Deutschland hat in der belarusischen Geschichte Spuren hinterlassen. Diese Spuren führen zu einem Ereignis, das sich in diesem Jahr zum 80. Mal wiederholt, doch von dem in Deutschland wohl wie so oft kaum einer Kenntnis nehmen wird. Doch in den postsowjetischen Ländern kennt dieses Ereignis jedes Schulkind: Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Was folgte, war nicht nur die Ermordung von Millionen osteuropäischer Jüdinnen und Juden (die damals die größte Minderheit in Belarus stellten!), sondern auch ein barbarischer Vernichtungskrieg. Dieser zeigte sich unter anderem in Chatyn, einem Dorf nördlich von Minsk. Als Strafaktion für einen Partisan*innenangriff rückte am 22. März 1943 das SS-Sonderbataillon Dirlewanger in Chatyn ein, plünderte das Dorf und trieb die Einwohner*innen in einer Scheune zusammen, die dann in Brand gesteckt wurde. Wer versuchte zu fliehen, wurde erschossen. Nur eine Handvoll Bewohner*innen Chatyns überlebten das Massaker.

Chatyn wurde nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut. Stattdessen steht heute dort der Friedhof der verbrannten Dörfer. Denn Chatyn war kein Einzelfall – Hunderte Dörfer wurden von den Deutschen in Belarus (aber auch der Ukraine und im Westen Russlands) zerstört und ihre Einwohner*innen getötet. In Deutschland, das sich mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit rühmt, ist dieser sogenannte Vernichtungskrieg im Osten noch ein ziemlich unbekanntes Kapitel der Geschichte.

Hinzu kommen Orte wie Maly Trostenez – ein „unbekanntes Vernichtungslager“ in der Nähe von Minsk in dem Hunderttausende Menschen erschossen und vergast wurden, vor allem Jüd*innen, die mit Eisenbahnwaggons aus allen von Deutschland besetzten Gebieten herangeschafft wurden. Anders als in Orten wie Auschwitz gibt es in Maly Trostenez keine für Besucher*innen zugängliche Baracken oder ähnliches, die ein Gefühl für den Ort vermitteln könnten – sämtliche Spuren des Massenmords wurden damals vernichtet und übrig geblieben ist nur ein Wald. Nachdem es jahrelang nur einen einfachen Gedenkstein gab, der an die damaligen Verbrechen erinnerte, weihte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen mit seinem österreichischen Kollegen Alexander van der Bellen im Jahr 2018 eine große Gedenkstätte ein.

Video über die Gedenkstätte Maly Trostenez bei Minsk:

Und doch ist dieser Ort des Holocaust in Deutschland heute vielen unbekannt.

Und dann sind da noch die Hunderttausenden Belarus*innen, die wie andere Menschen der von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete als Zwangsarbeiter*innen nach Deutschland verschleppt wurden und hier oft unter menschenunwürdigen Bedingungen schwere Arbeit leisten mussten. Über das Schicksal dieser Menschen ist oft heute wenig bekannt. In Berlin erinnert daran heute unter anderem das Dokumentationszentrum Zwangsarbeit in Schöneweide.

Ein Nachhall von 1989

Doch es gibt noch eine zweite Ebene in den aktuellen Geschehnissen in Belarus, die uns eher an die freudigeren Episoden der deutschen Geschichte erinnert: Denn das, was gerade in Belarus passiert, ist eine Art verspätetes 1989. Wie bereits beschrieben, ist das sozialistische System dort nie wirklich zusammengebrochen. Doch jetzt hinterfragen die Menschen die Darstellungen der Machthabenden und die Angst vor dem System bröckelt. Es ist nicht mehr nur eine kleine intellektuelle Gruppe, sondern die breite Masse der Menschen, die protestiert. Zu erinnern sei etwa an die Arbeiter einer Minsker Fahrzeugfabrik, die Lukaschenka im August ausbuhten als dieser zu ihnen sprechen wollte. Oder auch an die digitalen Techniken, mit denen die Opposition versuchte, Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl nachzuweisen und dafür eine eigene App entwickelte. In Belarus gerät nun der letzte Rest des alten sowjetischen Systems ins Wanken – es ist der letzte Nachhall von 1989.


5 Ein Überblick über die Vielfältigkeit der Proteste in Belarus gibt dieses Online-Dossier von dekorder.org: https://specials.dekoder.org/belarus-protest?fbclid=IwAR0tb4lxYGa-1Qg1rN89QBUgvLzqx-F4X7KXIfVW0RYPssFG_sXuAsuECyw

Weiterlesen?

Hier geht es zu der Kurzgeschichte “Züge”, die sich ebenfalls mit Fragen zur Identität zwischen Russland und Deutschland beschäftigt.

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