Autorin: Maya Oppitz
Glocken läuten durch ein 4-Ton Motiv. Siebenmal. Dann tosendes, tönendes Chaos, Verwüstung, Krieg, Tod. Es folgt: Stille. Ein einstimmiger Männerchor setzt zaghaft ein, es formt sich eine Gemeinde. Hoffnung, gegenseitiges sich Bestärken. Am Ende wieder Glockengeläut.
Das Buch mit sieben Siegeln, ein zwischen 1935 und 1937 entstandenes und 1938 uraufgeführtes Oratorium in drei Teilen von Franz Schmidt, ist eine Vertonung des letzten Buches des neuen Testaments, der Offenbarung des Johannes, in welchem die Apokalypse thematisiert wird. Durch den Glauben kann nach dem endzeitlichen Chaos und absolut grenzenloser Zerstörung aus dem Schutt heraus jedoch Hoffnung erwachsen, ja, durch den Glauben eine bessere Welt geschaffen oder zumindest imaginiert werden.
Wo stehen wir heute? Was sind aktuelle Zukunftsvisionen? Und was erzählt uns diese Weltuntergangsmusik heute, im Jahre 2022?
Die Thematik der Apokalypse scheint momentan en vogue zu sein. Im Babylon Kino Berlin erfährt der Film Metropolis von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 große Resonanz. Es geht um die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Insbesondere im Zuge aktueller Debatten zu künstlicher Intelligenz ist der Film ein – aus unserer Zeit heraus betrachtet – durchaus ernstzunehmender Versuch, ihre Ausmaße auf künstlerische Weise greifbar zu machen (die filmischen Mittel sind natürlich unter dem Stern der Zeit zu betrachten).
„Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein“ (Metropolis – 1927)
Hier wird klar an die Moral des Menschen appelliert. Zwischen den im Film so bezeichneten “Akademikern” und “Arbeitern” kann nicht eine Maschine, ein Roboter, die menschengemachte Technik vermitteln, sondern eben nur die Menschlichkeit, das Herz.
Die Oper Antichrist von Rued Langgaard, ebenfalls in den 1920er Jahren entstanden, wird in der Deutschen Oper Berlin Ende Januar zur Aufführung gebracht. Weltweit gab es bisher nur eine Handvoll Aufführungen dieses Werkes. Doch nun findet das Stück ein Publikum.
Kurz: Das Thema Weltuntergang erfreut sich in der Kulturszene momentan großer Beliebtheit. Die Frage ist natürlich: Wieso? Was macht den Weltuntergang so attraktiv?
Was bestärkt uns? Was stiftet Hoffnung? Was gibt uns Menschen Kraft, unseren Weg zu bestreiten? Diese und weitere Fragen, die Franz Schmidt auch in seinem Oratorium aufwirft, sind gerade heute aktueller denn je. Wer hätte vor knapp zwei Jahren gedacht, dass die Corona-Pandemie jetzt noch allgegenwärtig sein würde?1 Und wie gehen wir optimistisch und verantwortungsvoll mit dieser Situation um?
Geht es nach dem klassischen Bibeltext, nach der Offenbarung des Johannes, so spielt der Glaube eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Beantwortung der Frage nach dem trostspendenden und hoffnungsstiftenden Moment, welches aus einem imaginierten oder realen Weltuntergangsszenario generiert werden kann. Der Antichrist, der Nichtgläubige, wird bestraft. Der Glaube und der Zusammenhalt durch den Glauben in einer Gemeinde ist das, was den Menschen am Ende des Tages zu Standhaftigkeit motivieren und bestärken soll, wird selbst zum Trostspender.
Doch an welche Form von Gemeinde können wir heute anknüpfen? Und woran glauben wir, wenn wir nicht im religiösen Sinne glauben?
Zu Fragen rund um Wissenschaft und Wahrheit, Glauben und Irrglauben in der Pandemie könnt ihr hier mehr lesen.
Carmen Ottner stellt in ihrem Artikel über Franz Schmidt und sein Oratorium die These auf, dass Franz Schmidt mit seinem Werk eine Apokalypse, die in Form des zweiten Weltkriegs auf die Welt zukam, vorweggenommen habe.2
„Tötet, erwürget, erschlaget, ermordet, vernichtet den Feind! Schonet niemand! Verschonet nichts, was euer Arm erreicht! Schlagt um euch! Mordet! Zündet an! Plündert!“3
Mit sich reibenden und einander überlagernden Schichten von chromatischen Figuren ist diese Textstelle in Schmidts Oratorium vertont. Schmerz und Verzweiflung werden hörbar, spürbar, greifbar. Ich möchte an dieser Stelle argumentieren, dass hier die Textgrundlage, das Libretto, zwar wie die Beschreibung einer realen Kriegsszene wirkt, die Musik jedoch die Apokalype widerspiegelt, ein Weltuntergangsszenario, das fast überweltlich, ja surreal erscheint. Eine schonungslose Brutalität greift musikalisch um sich, die rückblickend jedoch auf ihre Weise befreiend wirkt: Nach dem Ende des Oratoriums hat das Ohr in etwa zwei Stunden zwar einiges erlitten und durchgemacht, aber es stellt sich auch ein Gefühl von Erleichterung ein.
Vielleicht ist es genau das, was sich viele Menschen von der Beschäftigung mit dem Thema der Apokalypse durch künstlerische Medien erhoffen: Am Ende steht man aus seinem Ohrensessel oder Konzertstuhl im Opernhaus auf, kocht sich einen Tee oder macht sich ein zischendes Corona-Bier auf und merkt mal wieder, wie gut es einem eigentlich geht und dass wir uns (zumindest noch nicht) in apokalyptischen Weltzuständen befinden und eigentlich kein Grund zur Klage besteht.
1 Ich möchte an dieser Stelle kein Endzeitszenario mit der derzeitigen Weltsituation gleichsetzen. Aber dass Parallelen durchaus gedacht werden könnten, ist in Anbetracht der Klimakriese und aktuellen Themen wie der Corona-Pandemie zumindest denkbar.
2 Carmen Ottner, Art. Schmidt, Franz in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016., veröffentlicht November 2021, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/400412
3 Es handelt sich hierbei nicht um von Franz Schmidt übernommene Originalzitate aus der Bibel, sondern um das Libretto des Oratoriums.