Autorin: Yulia Kolgina
Ich bin auf dem Weg zu meinem wöchentlichen Workout mit Freunden. Schneeflocken fliegengegen das zerkratzte Fenster der S-Bahn. Der Wind schwingt mit seiner riesigen Hand jedes Mal weit und wirft dünne, gefrorene Wasserfetzen dorthin, wo sein Blick hinfällt.In meinem Kopf verstreuen sich die Gedanken in verschiedene Richtungen, so chaotisch wie die Schneeflocken im wütenden Wind. Sie kommen auf mich zu wie ein nicht enden wollender Strom oder sie eilen nach rechts oder nach links, von einer der Windböen erfasst. Ich kann keinen Grund für meine Schwermut nennen. Aus irgendeinem Grund bin ich traurig… Entweder, weil die Schneeflocken für das faule Gemüt gleich aussehen,oder sie rauschen zu schnell vor meinen Augen. Ich fühle nur Müdigkeit, die physische Verkörperung der Sehnsucht, ihre steinerne Umarmung. All das ist zu spüren, wenn ich in der S-Bahn am Fenster sitze und das Schneegestöber betrachte. Der fallende Schnee, der mich in den Schlaf lullt und meine Trauer mit einer schneeweißen Decke zudeckt.Die S41 nimmt mich mit, der Zug nimmt mich mit. Und ich wünschte mir mehr als alles andere, dass die Bahn nicht im Kreis fahren würde. Ich wünschte, es würde endlos gehen, hinterdrein dem Frieden der Wehmut und der Ewigkeit der Müdigkeit.Ich wünschte, ich könnte ewig auf diesem schlammigen grünen Sitz verweilen und nie meine Augen von dem Schnee, der vom Himmel fällt, abwenden. Und wenn ich anfing zu träumen, wünschte ich mir, dass dieser Zug ins Nirgendwo fährt. In die Leere, wo es keine Menschen gibt, keinen Boden, kein Gras, keinen Schnee, der auf meinen Kopf fällt, und nicht einmal seine Abwesenheit, und am liebsten auch nicht mich selbst. Ja, ich wünschte, der Zug würde mich von mir wegbringen… Aber es ist nur die S-Bahn, die im Kreis fährt.
Die kümmert sich auch nicht wie alle anderen Menschen um meine Wünsche. Und das ist okay, ich akzeptiere das. Und ich steige an der nächsten Station aus. Jetzt bin ich da.Ich treffe meinen Freund, er nimmt mich in seine Arme und küsst mich. Ich kann seine Brust auf meiner Brust spüren, seine Arme in meinen Armen, aber nicht die Wärme, die von ihnen ausgeht. Ich spüre seine vollen Lippen auf meinen vollen Lippen, aber ich fühle nichts bei ihrer Berührung. Ich kann seinen liebevollen Blick sehen, aber ich kann die Liebe selbst nicht spüren. Ein liebender, fürsorglicher Mannsteht vor mir, aber ich bin mit einer dünnen Frostschicht bedeckt, die mich daran hindert, die größte aller Freuden zu genießen: die Liebe. Wir fassen uns wie immer an den Händchen und gehen zu unseren Freunden. Jeden Sonntag trainieren wir gemeinsam.Ich sehe das Lächeln meiner Freunde, höre ihr Lachen. Ich höre Musik, die sie dazu bringt, Kniebeugen, Liegestütze und Sprünge im Takt zu machen. In manchen Momenten scherzen sie, plaudern über nichts. Aber für mich ist alles, was vor sich geht – die Worte, die Klänge, der Rhythmus, die Bewegungen und die Farben – nur ein großer grauer Fleck auf der Leinwand des Lebens.
Und inmitten dieses Festes der Wärme und Freundlichkeit, der Lebensenergie und Liebe, fühle ich mich überflüssig. Und ich träume davon, wie eine Schneeflocke in jemandes heißer Handfläche zu schmelzen.
***
Die ersten wirklich warmen Sonnenstrahlen brachten mit blutrünstigem Vergnügen die Reste der Schneeblöcke zum Schmelzen. Es dauerte drei Tage, bis die Lichtströme die Welt aus dem bitteren Winter mitten in den Frühling schickten. Die Felder waren nackt. Sie zogen ihr leichtes, schneeweißes Kleid aus, und man konnte die endlose Linie der Schienen sehen, die durch die Felder verliefen und irgendwo in der unvorstellbaren Ferne, jenseits der Linie des Horizonts, endeten.
Entweder eine Taube oder ein Rabe schwebte zur Abendstunde über der Bahn. Eine kühle Brise wehte auf ihren Flügeln, mit einem deutlichen Duft des Frühlings in sich. Oh, dieser frische und süße Duft! Sie wird von den Menschen und allen Lebewesen so geliebt und geschätzt. Der Geruch, der Lust macht, höher zu steigen. Der Vogel schwebt lange Zeit, bis unter ihm ein Zug mit voller Geschwindigkeit rast.
Der Zug nimmt Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Aus dem Blickwinkel des Vogels sind diese Züge verblüffend ruhig und schnell unterwegs. Doch sobald sich Ihr Ohr auf Höhe der Räder befindet, wird der Körper von Schrecken ergriffen. Schrecken vor dem grauenvollen Lärm, vor der Energie und Unerschütterlichkeit des seelenlosen Metalls. Seelenloses Metall, von einer unsichtbaren Kraft in Bewegung versetzt.
Der schwarz-graue Riese reißt durch die Leinwand der Felder und neigt sich irgendwo in der unvorstellbaren Ferne jenseits der Horizontlinie. Mit kräftigen, schweren Schritten, die in ein unaufhörliches Lied aus Klappern und Rattern übergehen, kommt der Zug voran. Davor, auf der Ebene der unfassbaren Weite, auf der Linie des Horizonts, erheben sich allmählich zwei Berge.
Und die Schienen führen den Zug zu ihnen, führen ihn zwischen zwei stolzen Erhebungen hindurch, die so unberührt und majestätisch dastehen, als hätte sie nichts und niemand in der Ewigkeit gestört. Die Gipfel der Berge sind mit Schnee bedeckt, und in ihrer steinernen Schönheit sieht der Zug etwas Eigensinniges, etwas Kaltes, das ihm ähnelt.
Der Zug war nun sehr nahe an den Bergen. Die Sonne ging gerade unter. Und die mächtige Maschine schien zwischen zwei schönen Bergen hindurchzufahren, schnell und langsam zugleich, aber langsam genug, um sanft zu gleiten. Ein riesiger orangefarbener Ball fiel über die Linie des Horizonts. Und der Zug, der sich immer weiter entfernte, schien dagegen zu prallen. Und dann breiteten sich Wellen von Energie und Schall über die Felder aus – ein lautes BOOM ertönte. Und die Vögel flatterten erschrocken in den Himmel!
***
Mein Name ist Yulia Kolgina, ich wurde in der Stadt Yaroslawl geboren, dreihundert Kilometer von Moskau entfernt. Als ich 18 war, zog ich nach Berlin, um zu studieren. Zuerst habe ich das Schudienkolleg absolviert und bin dann an die Humboldt-Universität, Fakultät für Philologie, gegangen. Jetzt studiere ich Skandinavistik und russische Literatur. Und seien wir mal ehrlich, ich liebe mein Studium!
Als ich mit dem Studienkolleg fertig war, erreichte das Coronavirus auch Deutschland. Das war im März 2020. Und erst jetzt, nur ein Jahr später, habe ich es geschafft, nach Russland zu fahren um meine Eltern wiederzusehen. Ein Jahr später. Wir waren noch nie so lange getrennt. Ich muss sagen, dass es sehr schwer eher für meine Familie, und nicht für mich war… aber das ist eine andere Geschichte.
Ich hatte wunderbare drei Wochen zu Hause. Die Zeit war voller wunderbarer Eindrücke, Freude, glücklichen Abenden mit meiner Familie, und außerdem – Eröffnung neuer Perspektiven und sehr nötige aufrichtige Offenbarungen. Es wird Zeit, zurück nach Berlin zu fliegen, ich möchte unbedingt weiter studieren. Und nun sitze ich im Flughafengebäude in Domodedowo und schreibe dieses Vorwort, um auf eine Frage zu kommen, die in meinem Kopf herumkreist.
Wo ist es jetzt mein Zuhause?
In Russland, in Jaroslawl? Denn ehrlich gesagt, mein ganzes Wesen ist den Orten gewidmet, an denen ursprünglich Russisch gesprochen wird. Wo Menschen die Sprache meiner Gedanken, meiner Texte, meiner Werke sprechen, die Sprache meiner Seele, die Sprache, die ich für immer liebe. Mein Zuhause ist also dort, wo meine Wurzeln sind, meine Familie, meine Lieben? Wo ich geboren wurde, wo ich aufgewachsen bin, wo ich angefangen habe zu formulieren und zu artikulieren?
Oder ist mein Zuhause jetzt in Deutschland, in Berlin? Wo die Straßen nach Freiheit riechen, wo meine Freunde sind, wo meine Liebe ist, wo meine Arbeit ist, für die ich brenne, wo ich wirklich lebe? Wo das neue Wissen, die Entwicklung, die Bewegungen sind? Und wieder: Wo ich frei atmen kann? Ich habe es nicht eilig mit einer Antwort. Doch während all diese Fragen in meinem Kopf herumschwirren, lässt mich ein Bild aus der Vergangenheit nicht los.
Es ist Abend. Ich bin zehn. Ich liege unter einer Decke. Es ist schön und warm, aber ich kann nicht schlafen. Dann kommt meine Mutter, sie setzt sich auf die Bettkante, zieht die Decke zurecht, sodass ich wie in einem geschützten Kokon bin, als wäre ich sicher in einer Wolke versteckt. Nur mein Kopf lugt aus der großen Portion Zuckerwatte hervor. Meine Mutter streichelt mich und erzählt mir eine kleine Geschichte:
Ein großer Zug fährt in der Nacht durch schneebedeckte Felder, durch Wälder. Seine Waggons sind vereist und ihre Dächer mit Schnee bedeckt, der kalte Wind schlägt durch die Fenster, bläst durch alle Ritzen, sucht jemanden zum Beißen, jemanden, den er zum Frieren bringen kann. Und in einem schmalen Schornstein bauten zwei kleine Vögel ein Nest. Sie sitzen in ihrem Nest und umarmen sich gegenseitig mit ihren Flügeln. Die warme Luft kommt von unten und erwärmt sie. Und es ist so gemütlich, so warm, so gut und ruhig in ihrem “kleinen Haus”. Und sie fahren und schlafen ein, während der Zug fährt und schaukelt, chuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuchuch…
Und ich könnte jetzt sagen, dass mein Zuhause dort ist, wo es warm und gemütlich, ruhig und angenehm ist, wo ich von den Flügeln eines anderen Vogels oder anderer Vögel umarmt werde. ABER!
Ich möchte glauben, dass ich kein kleiner Vogel mehr bin und diese Wärme nicht brauche, weil ich mein eigenes schönes warmes Gefieder habe. Ich will nicht mehr, ich muss nicht in einem Nest sitzen, in einer beheizten Röhre. Es ist möglich, zu fliegen, außerdem weiß ich, wohin. Und Trost und Ruhe und Wärme sind in mir, in meinem Herzen. Und so ist mein Zuhause dort, wo ich bin.
Und vielleicht ziehe ich voreilige Schlüsse, vielleicht WILL auch ich an all das glauben: an die Unabhängigkeit, an die Identität. Das spielt aber keine Rolle. So oder so, bin ich sicher, dass der Glaube schon mal ein guter Anfang ist.
Weiterlesen?
Hier geht es zu dem Artikel “Belarus: 950 Kilometer sind nicht viel”, der sich mit Fragen zur Identität von Belarus*innen und der politischen Situation in Belarus beschäftigt