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Siamo tutti antirazzisti?

Der Film nimmt dabei keine kritische Position gegenüber derjenigen Öffentlichkeit ein, die diese Katastrophe verdrängt, denn der Film reproduziert die Figur des radikal Fremden, die im europäischen Abschottungsdiskurs präsent ist, auch wenn in Cinques Erzählung ihre Hilfsbedürftigkeit im Vordergrund steht. Cinques Film ist in diesem Sinne nicht entschieden genug antirassistisch, um der Verdinglichung von Geflüchteten in Europa erzählerisch viel entgegenzusetzen. Diese Problematik betrifft in zugespitzter Form den Kurzfilm Lifeboat – The Experiment. In diesem inszeniert der Regisseur Skye Fitzgerald zusammen mit der Nichtregierungsorganisation Sea-watch in einem Wellenbecken eine Flucht auf dem Schlauchboot über das Mittelmeer – mit weißen, deutschen Insassen. Über ihre Erfahrung berichten anschließend einerseits die gut ausgeleuchteten Teilnehmer*innen des Versuchs, anderseits im Dunklen sitzende Geflüchtete, die tatsächlich über das Mittelmeer geflohen sind. Glaubhafte Zeugenschaft über die Grauenhaftigkeit des europäischen Grenzregimes bekommt die rassistische Gesellschaft hier mundgerecht von weißen Personen geliefert. Der Film baut somit auf jenen rassistischen Mustern auf, die die Zeugenschaft Geflüchteter nicht glaubwürdig genug und sie selbst nicht zu Individuen einer solidarischen Beziehung werden lassen.5

Wenig beleuchtete Zeugenschaft. Im Kurzfilm Lifeboat – The Experiment kommen auch Personen wie Ali Ahmed zu Wort, die tatsächlich die Überfahrt über das Mittelmeer erlebt haben. Bild: Sea-Watch

Beide Filme thematisieren kaum, weshalb die Seenotrettung im Mittelmeer von deutschen Jugendlichen übernommen werden muss und staatliche Stellen zumeist Sabotagearbeit leisten. Primär geht es den Filmen um den Transport des Gefühls, dass es sich bei Seenotrettung um eine notwendige und unterstützenswerte Tätigkeit handelt. Das ist richtig, trägt aber nicht dazu bei, die Verbindung zwischen der europäischen Abschottungspolitik und strukturellem Rassismus zu beleuchten. Um eine tatsächlich solidarische Form der Kritik am deutschen Rassismus zu ermöglichen und Formen oberflächlicher Solidarität als solche zu erkennen, ist es jedoch notwendig, ebendiese Verbindung herauszustellen.

Durch Erzählungen, die radikale Solidarität verunmöglichen, solidarische Handlungen (wie die finanzielle Unterstützung von Seenotrettung) herbeiführen zu wollen, ist eine schlechte Taktik. Das wird offensichtlich, wenn es sich bei den Verbündeten, die antirassistischen Bewegungen in der Öffentlichkeit beispringen, um eine Regierungspartei handelt, die staatlichen Rassismus mitträgt. Deren Betroffenheit angesichts der Erfahrungen von Alltagsrassismus ist weit davon entfernt, den Kampf gegen strukturellen Rassismus aufzunehmen – und damit auch von einer radikalen antirassistischen Solidarität, die in der politischen Auseinandersetzung um den europäischen Grenzschutz und rassistische Polizeipraktiken gebraucht wird. Auch dieser Artikel leistet dazu leider keinen direkten Beitrag. Sein praktischer Gehalt liegt in dem Aufruf, in künftigen Debatten über Rassismus dessen Struktur stärker zu thematisieren.

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Hier geht es zu dem themenverwandten Artikel “Wie werden Menschen, die mit und in unserer Nähe leben, entfremdet”


5 Fitzgerald und sein Team reflektieren den Rassismus, der dem Versuch zugrunde liegt, selbst, wenn es in ihrer Pressemappe heißt: “Das Experiment offenbart den Rassismus in einer Gesellschaft in der Flüchtenden erst zugehört wird, wenn auch Europäer*innen ohne Migrationshintergrund in eine Situation gebracht werden, die an ihrem Schicksal angelehnt ist.” Nichtsdestotrotz reproduzieren sie ebendiese strukturelle Gewalt, wenn sie kulturelle und ethnische Gleichheit als Voraussetzung für Empathie bestärken und im Zuge dessen glaubhafte Zeugenschaft von weißen Europäer*innen vermittelt werden muss – selbst in Bezug auf Fluchterfahrungen, die sie so wahrscheinlich nie gemacht haben. Fitzgerald hat in seinem oskarnominierten Dokumentarfilm Lifeboat dagegen einen Dokumentarfilm geschaffen, der all diese Fehler nicht begeht und die Geflüchteten tatsächlich als Subjekte auftreten lässt. Das unterstreicht, wie strategisch die NGOs in ihrer politischen Kommunikation vorgehen (müssen).

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