In der aktuellen Debatte über Rassismus gibt es viele Solidaritätsbekundungen. Nicht alle überzeugen. Das liegt an der strukturellen Dimension des Problems.
Autoren: Johanna Eckert und Amin Wagner
Nach der Ermordung George Floyds am 25. Mai 2020 fanden im Sommer vergangen Jahres die bislang größten Massenproteste gegen Rassismus und rassistische Polizeigewalt in Deutschland statt. Obwohl die Proteste sich an rassistischer Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika entzündeten, thematisierten die Protestierenden in Deutschland von Beginn an auch die jüngere Geschichte des rassistischen Terrors und die alltäglichen Erfahrungen rassifizierter Personen in Deutschland. Im Zuge der Proteste wurde das Problem des (post-nationalsozialistischen) Rassismus wohl so präsent in der breiten Öffentlichkeit verhandelt, wie kaum je zuvor. Besonders bemerkenswert dabei war, dass in dieser Debatte nun mehrheitlich Positionen vertreten waren, die nicht mehr grundsätzlich in Frage stellten, ob es eigentlich Rassismus in Deutschland gebe. Natürlich waren diese Positionen nicht gänzlich verschwunden, sie gerieten aber spürbar in die Defensive. So musste etwa Innenminister Horst Seehofer (CSU), der angestrengt versucht hatte, eine Untersuchung über Racial Profiling in der Polizei zu unterbinden, im Herbst letzten Jahres klein beigeben und unter dem Druck der SPD-Parteivorsitzenden doch noch eine solche Untersuchung in die Wege leiten.
Wie klein dieser Erfolg letztendlich ist, zeigt sich daran, dass in dieser Untersuchung zu Racial Profiling nun gleichermaßen Gewalt gegen Polizist*innen untersucht werden soll – so, als ob es sich dabei um unmittelbar korrespondierende Probleme handeln würde. Gravierender ist aber, dass die progressivere Position in dieser öffentlichen Debatte unter anderem von einer Regierungspartei eingenommen wurde, die an anderer Stelle offensichtlich rassistische, aber legale Polizeipraktiken mitträgt. Man tut der vielbeschworenen Mehrzahl der nicht-rassistischen Polizist*innen geradezu Unrecht an, wenn verschwiegen wird, dass neben dem willkürlichen, illegalen Racial Profiling – an dem sie sich möglicherweise nicht beteiligen – viele legale Einsätze der Polizei ebenso rassistisch, aber nicht ‚freiwillig‘ sind. Das Durchsetzen von Abschiebungen etwa ist eine unglaublich brutale Polizeipraxis. Die Polizei reißt Asylbewerber*innen dabei mitunter mitten in der der Nacht aus ihren Betten und nimmt sie vorsorglich in Haft. Dieses Vorgehen ist völlig legales Unrecht. Ob sich Polizist*innen an diesen Einsätzen beteiligen, hängt nicht von ihren individuellen Überzeugungen ab (sofern der Antirassismus der Beamt*innen nicht so weit reicht, sich vorsorglich eine andere Arbeit zu suchen). Rassistische Praktiken sind ein ordnungsgemäßer Bestandteil der Polizei und anderer Institutionen. Diesem strukturellen Problem wurden die Solidaritätsbekundungen der SPD-Führung nicht gerecht. Die öffentliche Debatte blieb sachlich hinter der von den Protestierenden betonten Vielschichtigkeit rassistischer Strukturen in Deutschland („Von Moria bis Hanau, Widerstand überall!“1) zurück. Für die Protestierenden und Betroffenen entsteht dadurch eine Situation, in der sie zwischen tiefgehender und oberflächlicher Solidarität unterscheiden müssen.
Wie wichtig diese Unterscheidung ist, zeigt sich besonders in der Debatte um Seenotrettung und das europäische Grenzregime. Dass Flüchtende regelmäßig an der europäischen Außengrenze sterben, kann nur dann angemessen kritisiert werden, wenn in der Debatte Rassismus als strukturelles Phänomen thematisiert wird. So ist beispielsweise die Bundesregierung, die sich in Teilen mit den Protesten solidarisierte, für die Kriminalisierung der Seenotrettung mitverantwortlich. Im Sommer vergangen Jahres, noch während bundesweit Demonstrationen gegen Rassismus stattfanden, wurde die Sportbooteverordnung geändert. Die vom CSU-geführten Verkehrsministerium veranlasste Novelle erschwert es Nichtregierungsorganisationen, ihre Boote in der Seenotrettung einzusetzen.2 Diese Politik ist rassistisch. Dass eine Sportbooteverordnung in Wirklichkeit die Seenotrettung erschweren soll, ist nur erklärbar, wenn die gefährdeten Leben rassistisch abgewertet werden. In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Solidaritätsbekundungen ernst zu nehmen sind und welche einen klaren Blick auf rassistische Strukturen erschweren.
1 Motto von migrantifa berlin: https://migrantifaberlin.wordpress.com/
2 http://mission-lifeline.de/wie-verkehrsminister-andreas-scheuer-seenotrettung-verhindern-will/
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