Autorin: Nana Tigges
Den „Virtuelle[n] Mensch[en]“1 imaginierte Jean Baudrillard (1929–2007) schon 1989 als einen, der „Vorlesungen via Telefonkonferenz“² abhalten und Intimität einzig durch Bildschirme vermittelt erleben würde.³ Den Einfluss des Digitalen auf das menschliche Dasein malte der französische Medienphilosoph und Soziologe z. B. in seinem Essay „Videowelt und fraktales Subjekt“ in dystopisch verstörender Weise und mit immenser Lust an der poetischen Brutalität seiner Sprache aus. Er prophezeite, dass der Mensch seine Motorik, sein Denken und seine Leidenschaften vollends verlieren würde.4 Diskurse über Digitalisierung sind in den letzten Jahren und ja – Jahrzehnten – in allen Bereichen der Gesellschaft und Wissenschaft angekommen, kaum eine politische Ansprache erfolgt ohne Verweis auf die Bedeutung des Digitalen für Gegenwart und Zukunft. Selten sind diese Diskurse noch von solcher Düsternis gezeichnet wie bei Baudrillard, den man heute zu leicht als rettungslosen Kulturpessimisten abtun könnte. Aber das vergangene Jahr hat Veränderungen in Bezug auf unser analog-digitales Leben bewirkt, wie wir sie uns zuvor nicht vorgestellt hätten: Vorlesungen ausschließlich via Telefonkonferenz, aber auch Spieleabende, Aktivist*innentreffen, Dates, Matheunterricht und Parteitage vor dem Bildschirm. Manche behaupten, die COVID-19-Pandemie habe damit Entwicklungen, die ohnehin stattgefunden hätten, nur beschleunigt. Ob bloße Beschleunigung des Unvermeidbaren oder rasante Reaktion auf eine neue Realität, die Pandemie hinterlässt Spuren auf unseren Körpern und in unserem sozialen Miteinander, das so bedeutend auch zwischen unseren Körpern stattfindet. Um diese körperliche Dimension menschlichen Zusammenlebens zu betonen, hat der Phänomenologe Merleau-Ponty den Begriff der „Interkorporalität“5 geprägt – er wollte deutlich machen, dass das Intersubjektive, das Miteinander-in-Kontakt-Sein, das Einander-Verstehen bei Menschen nicht rein kognitiv und selbstbezogen, sondern konstitutiv durch den körperlichen Zugang zur Welt und zu Anderen stattfindet. Wie genau aber verändert nun die Pandemie – mit Kontaktbeschränkungen, Abstandsregeln und Zoom – unsere Leiblichkeit und unsere Interkorporalität, unsere Berührbarkeit durch Andere und unsere Begegnungen mit ihnen? Baudrillard sagte voraus, dass die Anderen uns gänzlich abhandenkommen würden und das Individuum auf den Kontakt mit Bildschirmen reduziert würde.6
Auf jeden Fall verlagert unser Alltag sich – ob Arbeit, Studium oder Freizeit betreffend – in nie zuvor gekanntem Maße in virtuelle Räume. Solche, die uns nicht unbekannt waren und uns doch noch so unverständlich sind. In ihnen verschwimmen die Bedeutungen von scheinbar klaren Begriffen wie Präsenz, Realität und Wahrhaftigkeit: Was meinen wir, wenn wir während des Zoom-Meetings fragen, ob die Anderen noch da seien? Der Status des Subjekts und seiner Leiblichkeit wankt. Darum gilt es nicht nur Impf- und Öffnungsstrategien zu diskutieren, sondern auch zu untersuchen, was diese essenzielle, ontologische Unsicherheit mit uns macht – als Individuen, aber auch als soziale Wesen. Das ist drängende Aufgabe von Theorie und Gesellschaft.
1 Jean Baudrillard. „Videowelt und fraktales Subjekt“. Philosophien der neuen Technologie. Hg. v. ARS ELECTRONICA. Berlin: Merve Verlag, 1989, S. 113–131, S. 127.
² Ebd.
³ Ebd.
4 Ebd., S. 127–130.
5 Maurice Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter, 1966.
6 Baudrillard, „Videowelt und fraktales Subjekt“, S. 114.
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