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„Identität ist immer auch das, was man nicht ist.“ – Über die Macht von Sprache & Benennung

Doch zurück zur produktiven Wirkung von Normen: Wo genau liegt diese Handlungsfähigkeit die Butler beschreibt und wie gestaltet sie sich? Die Verweigerung von kollektivierenden und totalisierenden Anrufungen oder auch der ironische Umgang mit solchen Identitätskategorien und Normen sind Beispiele für eine kritische Handlungsfähigkeit. Butlers Konzept der performativity setzt genau dort an. Der Begriff der performativity meint, dass mittels der Bezeichnung, einer sprachlichen Benennung, performative Akte soziale Realität hervorbringen und somit nicht nur beschreibend wirken. Die Philosophin verbindet also das Konzept der performativity mit dem foucaultschen Verständnis von Macht-Diskurs-Regimen. Der Diskurs ist einem ständigen Wandel ausgesetzt und erneuert sich immer wieder, sodass genau in diesem Moment der Rezitation, da wo die symbolische Ordnung am instabilsten ist, die eigene Handlungsfähigkeit ansetzt.

Gümüşay setzt ebenfalls Sprache, Macht und eine daraus entstehende Performativität in Beziehung zueinander, indem sie deutlich macht, dass „Benannte […] unter dem Blick der Unbenannten performen, um als Menschen wahrgenommen zu werden“.

Kehren wir noch einmal zurück zu Gümüşays Bild des „Museums der Sprache“. Dadurch, dass ihre (gesellschaftliche) Existenz als Selbstverständlich angesehen wird und unhinterfragt bleibt, so Gümüşay, benötigen diese Menschen keine Benennung. Geht es Kübra Gümüşay hier jedoch hauptsächlich um Identitätskategorien und/oder Kollektivnamen oder vertritt sie die These, dass die Unbenannten gänzlich frei von jeglicher Form der Benennung existieren können? Stellt jede Benennung ein Ausüben von Macht im Sinne einer Unterdrückung dar oder unterscheidet Gümüşay zwischen Formen der Benennung? Gibt es demnach positive, nicht-unterdrückende und somit wünschenswerte Formen der Benennung?

Butler meint hierzu, dass die Anrufung nicht versuche, eine bereits existierende Realität zu beschreiben, sondern eine Realität einzuführen, sodass der Zweck der Benennung darin liegen würde, das Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen und einzusetzen. Formen der Benennung, die nicht die Unterdrückung als Ziel haben, gibt es nach Butler demnach nicht. Jedoch lassen sich nach Butler Anrufungen immer als notwendig und produktiv beschreiben, da sie die Handlungsfähigkeit des Subjekts ermöglichen. Betrachten wir nun einmal genauer die Position des Subjekts in der Sprache, beziehungsweise die Bedingungen der Namensgebung. Diese stellt sich zunächst als einseitige Handlung dar, da der „Name als Anrede erscheint, die dem anderen eine Prägung zuspricht und zugleich für ,passend‘ oder ,geeignet‘ erklärt“.

Bis zu diesem Punkt lassen sich Butlers Erkenntnisse auf Gümüşays Darstellung des Akts der Benennung der Benannten durch die Unbenannten anwenden, doch gelangt Butler auf der Basis ihres Subjektbegriffs zu der Erkenntnis, dass „Die Möglichkeit zu benennen, erfordert, dass man selbst bereits benannt worden ist.“ Das Subjekt habe demnach in der Sprache stets die Position des Adressaten und des Adressierenden inne, sodass sich der Akt des Benennens schließlich als wechselseitige Handlung darstellt. Gümüşay sieht in dem Akt der Anrufung deutlich weniger Handlungspotential als Judith Butler. Sie gesteht Kategorien, welche Formen der Benennung sind, zwar eine Daseinsberechtigung zu, da wir uns mit ihrer Hilfe durch die komplexe Welt navigieren, jedoch betont sie auch immer wieder ihre lähmende und sprachlos machende Wirkung, sodass sich vermuten lässt, dass Gümüşay den Akt der Benennung an sich als einseitige Handlung beschreiben würde. Doch wie und woraus entwickelt sich Handlungsfähigkeit bei Gümüşay? Und wie lässt sich ihr Konzept des freien Sprechens bewerten?

Es ist der „Absolutheitsglaube“ der Kategorien zu Problemen werden lässt. Was ist also nötig, um eine gerechtere Gesellschaft zu formen, in der freies Sprechen möglich ist?

Beide Autorinnen sehen in der Überwindung jenes Wahrheitsanspruchs, in dem Bewusstwerdungsprozess der eigenen Grenzen und der begrenzten Perspektive, die Möglichkeit zur Veränderung eines ein- und begrenzenden Diskurses. Der von Gümüşay beschriebene emanzipierte Akt des freien Sprechens ist hier sowohl als Praxis als auch als Handlungs- und somit Veränderungsmöglichkeit zu betrachten. So schreibt sie: „Freies Sprechen bedeutet die Emanzipation von einer Sprache, die uns nicht vorsieht – indem wir sie verändern, anstatt uns zu erklären, indem wir sie anders nutzen, um in ihr zu sein.“ (Gümüşay (2020), S.159). Weiter erklärt Gümüşay, dass jeder Einzelne sich seiner eigenen begrenzten Sichtweise bewusst werden müsse. Dies erfordert Demut und die Bereitschaft und den Mut, den Anspruch auf die Absolutheit der eigenen Perspektive zu verlieren.

Butler meint hierzu, dass die Perspektive einer gegenseitigen Ausgesetztheit und Abhängigkeit sogar eine Form der Kollektivität entstehen lassen könnte, die schließlich nicht auf der Selbstgewissheit der Subjekte, sondern auf den Grenzen der Erkennbarkeit und Gewissheit beruhen würde und somit die Möglichkeit für Anderes, Unerwartetes eröffnen würde.

Mir ist erneut bewusst geworden, dass nicht unbedingt die Kategorien selbst der Feind sind und deren radikale Abschaffung daher das Endziel. Vielmehr offenbart sich mir der von Gümüşay und Butler als Absolutheits- beziehungsweise Wahrheitsglaube formulierte Anspruch, einen Menschen mittels einer Kategorie oder eines Kollektivnamens allumfassend und abschließend erfassen zu können, als wahrer Gegner. Durch die Bewusstwerdung unseres begrenzten Wissens verlieren eben jene Kategorien ihre Vorherrschaft und werden beweglich und offen für Veränderung. All diese Ungewissheiten und Veränderungen können Angst machen, da niemand voraussagen  kann, wie das Leben in solch einer Gesellschaft tatsächlich aussehen wird. Außerdem ist „die Chance, anders werden zu können, mit dem mühevollen Risiko verbunden, die Gewissheit über unser Sein aufzugeben.“ Doch wie es Gümüşay und Butler beschreiben, denke auch ich, dass die radikale Akzeptanz der eigenen Unwissenheit eine Erleichterung und Entlastung darstellen kann. Nein, wir werden nicht abschließend und allumfassend bestimmen können, wer andere und wir selbst sind und gerade das macht uns frei und birgt „die Möglichkeit der Mitbestimmung dessen (…), was das Menschliche ist“.

Jenes Gespräch mit der Familie war nicht der Grund für das Thema meiner Hausarbeit und doch habe ich dadurch meine eigene Position innerhalb dieses Diskurses besser verstehen und vor allem zu formulieren gelernt, sodass ich heute gerne erneut das Gespräch suchen würde. Und sei es, um das Schweigen zu beenden.

Autorin: Karla Kabot

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Ein Kommentar

  1. Steffen Schulz-Lorenz Steffen Schulz-Lorenz

    Danke für diesen Artikel. Ich habe diese These mit den “Benannten” jetzt ein wenig besser verstanden al beim Lesen des Buches (das ich im Übrigen nicht besonders erhellend fand, dazu waren mir da zu wenig Zusammenhang und zu viel Zitate und name-dropping.
    Aber ist das der – kontraintutive – Clou: Dass die Mehrheit die “Unbenannten” sind. Und Benennung damit zum Stigma wird. das widerspräche doch etwa dem Prinzip von Sichtbarmachung, dem Eine-eigene-Stimme finden usw. Ich verstehe das immer noch nicht so richtig, oder denke ich nicht dialektisch genug. Im Moment der Benennung erst wird etwas doch Wirklichkeit- und Ungerechtigkeit zugleich, das stimmt. aber sonst “ist” es nicht. Aber strukturelle Diskriminierung wirkt auch ohne Benennung.

    Der Artikel ist sehr vorsichtig und beschreibend. Wie eine These, ein Vorschlag, eine Position nicht schön? Eine Stimme?

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