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Chinas Disneyfizierung

Große Schlösser, schöne Prinzessinnen und mutige Prinzen: das sind die Bilder, die vermutlich jedem bei dem Gedanken an Disney vorschweben. In Disneyfilmen ist die Welt klar umzeichnet und in Antipole aufgeteilt. Das Schöne und Gute siegt grundsätzlich über das Böse und die Erzählungen folgen einem immer gleichen Aufbau. Bereits seit Ende der 1970er Jahre
versuchen aufwändig gestaltete Themenparks diese Filmkulisse in die Realität zu holen und dem Besucher wenigstens für eine begrenzte Zeit Zugang zu einer heilen, verständlichen Welt zu verschaffen. Zu einem der bekanntesten gehört EPCOT (Experimental Prototype Community of tomorrow) in Florida, den Walter Disney zunächst als reale Community anlegte.
Entstehen sollte eine nach dem Vorbild der Disneyfilme geschaffene Idealstadt, in der Regelungen wie ein disneykonformer, festgelegter Dresscode, limitierte Ausgangszeiten oder Vollbeschäftigung eine ideale Gesellschaft sichern sollten. Auch vor Regelungen, die das demokratische Mitspracherecht der Bewohner einschränken oder bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschließen, machte W. Disney nicht halt.

Fast wie ein Denkmal für EPCOT wirkt die “Amerikanische Stadt” in Dalian mit kulissenhaften Neubauten viktorianischer Vorstadthäuser, kombiniert mit dem Bremer Leuchtturm und Schloss Schwanenstein. Passend dazu verwendet Dalian die Schrift Disneys in seinem offiziellen Logo.

EPCOT sollte ringförmig angelegt werden. Das Zentrum sollte eine kommerzielle Zone bilden, umgeben von Bildungseinrichtungen und Freizeitanlagen im zweiten Ring. Der äußerste Ring war für Wohnanlagen im Stil einer viktorianische Kleinstadt vorgesehen. Hier schlug Disney verschiedene Einfamilienhaustypen vor, unter welchen sich die
zukünftigen Bewohner entscheiden konnten. Die klare räumliche Struktur sollte so auch die Gesellschaft und ihren Alltag ordnen. Das Projekt wurde in dieser Form nie realisiert, Walter Disney starb noch bevor er sein Planungen umsetzten konnte. Das Gelände wird heute als Attraktionspark genutzt und auch spätere Versuche des Disneykonzerns, eine neue Gesellschaft zu formen, haben sich langfristig nicht bewährt.

Die Idee, eine Gesellschaft und ihre Räume nach dem Narrativ Disneys zu gestalten, bleibt jedoch aktuell und tritt in immer neuen Dimensionen auf. In den 1980er Jahren kam schließlich der Begriff der Disneyfizierung auf. Eine Tendenz, die in den Filmwissenschaften, der Soziologie und in der Stadtplanung bzw. -erneuerung untersucht wird. 2019 hatten wir die Möglichkeit, bei einer Reise durch China die Ausmaße der dortigen Disneyfizierung zu beobachten. Diese tritt vor allem im politischen Diskurs als propagandistisches Mittel auf und manifestiert sich räumlich an prestigeträchtigen Orten sowie kulturell, unter anderem in der Geschichtserzählung. Die formalen Strukturen des Disney-Narrativs
sowie die gestalterische Sprache werden hierbei übernommen und inhaltlich der Ideologie der CPC und dem von ihr formulierten Chinese Dream angepasst. (Diese Orte sind wesentlicher Teil der Parteipropaganda, welche ein Schlüsselinstrument der chinesischen Politik ist.)

Der Kreis vom Disneyfilm über die Realisierung in Politik und Architektur schließt sich mit den Fotos der Besucher, die sich wie Schauspieler*innen in einer Kulisse platzieren und, dem Chinese Dream entsprechend, „peoples well-being“ demonstrieren.

Eine bemerkenswerte Ausprägung erfährt das Phänomen des Disney-Narrativs im Tourismuswesen, das beispielhaft für die aufstrebende
Mittelklasse Chinas steht und das Land nach außen repräsentieren soll. Sehr bewusst wird gewählt, wo historische Stätten und Mahnmale für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Häufig werden diese grundsaniert, wobei die meisten Orte ihre Authentizität verlieren und in fotofreundliche Kulissen oder Konsumwelten, als Bild des wirtschaftlichen Erfolges
des Landes, umgewandelt werden.

Sprache dieser Propaganda ist eine oft überartikulierte, historisierende Architektur, die stark mit Symbolik arbeitet. So werden Merkmale der klassischen chinesischen Architektur, wie bestimmte Konstruktionsarten oder Bemalungen, zum Teil in Kontexte gesetzt, die historisch nicht nachzuverfolgen sind. Dadurch wird jedoch der Eindruck eines vereinten
chinesischen Volkes mit einer gemeinsamen, scheinbar linearen Geschichte gefördert, was wiederum Teil der politischen Propaganda ist und so die Partei in der Legitimation ihrer Macht unterstützt. Beliebt sind auch gestalterische Hyperbeln wie grelle Farben oder Nachbauten in Übergröße. Dieses Phänomen haben wir unter anderem in Guizhou in verschiedenen Dörfern der Dong Minorität beobachten können, die zu touristischen Attraktionen umgebaut wurden. Die traditionellen Trommeltürme, ursprünglich Austragungsort politischer Diskussionen, sowie die Regen- und Sturmbrücken, als Ort des kulturellen Austausches, wurden in zum Teil dreifacher Größe neu konstruiert. Vereinzelt orientierte man sich hierbei an der historischen Bauweise, hauptsächlich jedoch wurden die Konstruktionen aufgrund der Überdimensionierung durch Beton oder Stahl ergänzt. So ändert sich das Gesicht historischer Orte so maßgeblich, dass ein Nachvollziehen der
tatsächlich Geschichte und Kultur kaum mehr möglich ist.

Bushaltestelle mit angrenzenden Souvenirläden am Bahnhof von Conjiang.

Die Disneyfizierung geht jedoch in Teilen über diese rein gestalterische Idealisierung und Umdeutung historischer Orte hinaus, bis hin zu Eingriffen in die Geschichtserzählung. Neben vollständig nachgebauten „historischen“ Städten werden auch tatsächlich historische Orte mit einem idealisierenden
Filter überzogen. So auch in Sanmenxia, einer Zweimillionenstadt nahe Xi´ans in der Provinz Henan. Hier wurden die traditionellen Höhlenbauten (yaodong) eigens für die Errichtung eines Attraktionsparks geräumt. Die Bewohner mussten hierfür ihr Dorf verlassen und wurden in die Stadt umgesiedelt. Heute ist ein Großteil der Wohnhöhlen bis auf einen unrealistischen Stand hin hochsaniert. Inszenierte Szenen in nachgebauten Küchen mit Lebensmitteln aus Plastik sollen das Leben der „Vorfahren“ begreifbar machen, die jedoch tatsächlich einige Kilometer weiter in Neubauten in der Stadt
wohnen. Auf den Informationsschildern wird der Alltag der Menschen in idealisierte Form beschrieben und es entsteht der Eindruck, dass die Höhlen bereits vor vielen Jahrzehnten verlassen wurden. Warum tatsächlich heute niemand mehr in den Yaodong lebt und, dass viel Menschen ihr Dorf nicht freiwillig verlassen haben, wird an keinen Stelle erwähnt. Über das
radikale Vorgehen der Politik täuschen nun bunte Lampions und Souvenirshops hinweg.

Die überzogene Gestaltung verwischt also nicht nur das tatsächliche räumliche Erlebnis, sondern schafft auch eine Distanz in zeitlichem Sinn.
Es wird unmöglich nachzuvollziehen, aus welcher Zeit Dinge stammen, was auch die Geschichtszählung zeitlos, fast beliebig macht. Auch dies ist eine klare Parallele zur Disney-Erzählung, in der zeitliche Zusammenhänge oft unklar bleiben oder gedehnt werden und so Schwerpunkte in der Erzählung schaffen.
Erstaunlicherweise erfreuen sich Orte wie das Freilichtmuseum in Sanmenxia einer großen Beliebtheit bei den Chinesen. Je nach Erreichbarkeit drängen sich Massen durch die scheinbar historischen Zentren, das Handy immer bereit für ein Selfie in der unwirklichen Umgebung, als würde ein innerer Zwang bestehen über das Bild Teil einer/dieser großen Erzählung zu
werden. Bedenklich ist jedoch, dass die Grenzen zwischen realer und inszenierter Historie verschwimmen und die Partei somit aktiv Einfluss auf das kollektive Gedächtnis des Landes nimmt. Was sich gestalterisch in bunten Farben und spektakulären Lichtinstallationen als Touristenattraktion zeigt, ist Symbol der Aneignung von Geschichtsschreibung einer Politik, die sich darauf fußend zu legitimieren versucht. Besonders bedenklich ist dies in einem Land, in dem das Wissen um die tatsächliche Vergangenheit sowie die politischen Zusammenhänge durch eine kontrollierte öffentliche Meinung und ein
politisch gelenktes Bildungssystem einem Großteil der Bevölkerung nicht zugänglich ist.

Wie bedeutend die Rolle der Propaganda und die Erzählung des Chinese Dreams für die Parteipolitik Chinas ist, erläutern O. Klimes & M. Marinelli in Introduction: Ideology, Propaganda, and Political Discourse in the Xi Jinping Era. J OF CHIN POLITSCI 23, 313–322 (2018). https://doi.org/10.1007/s11366-018-9566-3

„It (ideology) serves as a belief system, which conveys a particular worldview and an outlook on an ideal society, and as the guide
to the CPC’s actions, which enables the party-state to legitimize and operationalize various practices, institutions, and
organizations [2, 7, 8]. Propaganda is the « life blood » of the Chinese party-state as it remains one of the key means by which it
secures popular support … preventing other actors from undermining the CPC’s legitimacy and challenging its official narrative“

Autorin: Joanna von Essen

Ein Kommentar

  1. jurinde jurinde

    Wow, sehr interessant! Hat sich schön gelesen.

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