Hierin deutet sich bereits an, dass das Verhältnis der heutigen deutschen Linken zum Antizionismus differenziert betrachtet werden muss: Im Abstimmungsverhalten der SPD und des Großteils der Grünen im Bundestag erkennt man eine klare Haltung gegen Antisemitismus und Antizionismus. Dies wird beispielsweise an ihrer Unterstützung für den Ausschluss der antisemitischen BDS-Kampagne (Boycott, Divest, Sanctions) von jeglicher staatlicher Förderung deutlich.[1] Anders sieht es in der Linkspartei aus: Der ostdeutsche Teil der Partei ist vereinzelt noch durch den staatlichen Antizionismus der DDR, der demjenigen der UdSSR entsprach, geprägt. Westdeutsche Abgeordnete wie Inge Höger oder Annette Groth fallen immer wieder durch radikal antizionistische Äußerungen mit antisemitischem Einschlag auf; während der „Toilettenaffäre“ 2014 kam es gar zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen antizionistischen Referenten und dem Fraktionsvorsitzenden Gysi. In Teilen erkennt und beklagt die Führungsriege der Linkspartei diesen Zustand zwar.[2] Personelle Konsequenzen werden daraus jedoch nicht gezogen. Man muss daher feststellen, dass Teile der Linkspartei in der Tradition des radikalen Antizionismus der Neuen Linken stehen. Als Lagebild zum linken Antizionismus jenseits der parlamentarischen Parteien ist eine breit angelegte Studie des politischen Kulturforschers Maximilian Imhoff von 2011 aussagekräftig: Laut seiner statistischen Erhebung haben 17% der sich als „radikale Linke“bezeichnenden Personen eine antisemitische Grundeinstellung.[3]
Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass ein latenter Antizionismus zu den Charakteristika großer Teile 1968er-Bewegung gehörte. Auch wenn die Akteure trotz extremer Einzelbeispiele wie Dieter Kunzelmann in großer Mehrheit wohl keine Antisemiten waren, wurde Israelkritik vor allem vom SDS in antisemitischer Weise geäußert. Hierbei fallen erstaunliche Parallelen zum staatlichen Antizionismus der Sowjetunion auf. Westlich wie östlich des Eisernen Vorhangs bezeichnete man Israel als Vorposten eines „globalen Imperialismus“ und brachte es stereotypisch mit dem Kapitalismus in Verbindung. Auch Argumentationsmuster einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr, indem man Israel und den Faschismus für zusammenhängend erklärte, waren in den antizionistischen Äußerungen beider vorhanden. Eine gewisse Wirkmächtigkeit haben diese Narrative auf die radikale politische Linke bis heute, auch wenn antisemitische Taten zweifellos in der überwiegenden Zahl von Rechtsextremisten begangen werden. Es gilt daher, gegenüber beiden politischen Extremen wachsam zu sein, auf dass antisemitische Agitationen keine Chance haben.
Autor: Bernhard Ingenlath
[1] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892 (zuletzt aufgerufen: 06.10.2020).
[2] „Aber nehmen wir zum Beispiel den Antisemitismus: Der war Teil des Sozialismus sowjetischer Prägung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist aber auch unter westdeutschen Linken bitter nötig.“ Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestags (Die Linke), Interview Spiegel online vom 04.10.2020. https://www.spiegel.de/politik/petra-pau-zur-einheit-die-leute-haben-schlicht-keine-ahnung-wie-es-in-der-ddr-war-a-85cb5d46-b9a7-4f3e-ab62-0f6dbaa84e82 (zuletzt aufgerufen: 06.10.2020).
[3]Imhoff, Maximilian: Antisemitismus in der Linken. Ergebnisse einer quantitativen Befragung, Frankfurt am Main 2011, S.120f.