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Antizionismus in der Neuen Linken – an der Schwelle zum Antisemitismus?

Anders als in der Sowjetunion war offener Antisemitismus und Antizionismus in der westdeutschen Gesellschaft nach der Katastrophe des Holocaust indiskutabel. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik herrschte ein ausgeprägter Philosemitismus in fast allen politischen Lagern vor.6 Auch von der politischen Linken wurde der Staat Israel für seinen Pioniergeist und die sozialistische Ausgestaltung einiger ländlicher Siedlungen (Kibuzzim) hochgeschätzt.7 Eine Zäsur stellte jedoch der Sechstagekrieg im Juni 1967 dar. Israel besiegte die zu seiner Vernichtung verbündeten Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens und besetzte dabei unter anderem Ostjerusalem, den Gazastreifen, das Westjordanland und die Sinaihalbinsel.8

Innerhalb der 68er Bewegung, die maßgeblich vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) getragen wurde, vollzog sich daraufhin eine immer schärfer artikulierte Ablehnung Israels. Das dieser marktwirtschaftlich verfasste Staat nun eine „Besatzungsmacht“ war, machte es leicht, Israel in das Konzept von der Befreiung der Völker der Welt vom Imperialismus einzufügen. Aus dem Nahen Osten wurde der Schauplatz eines „zweiten Vietnamkrieg“.9 Formulierungen wie „Die gegenwärtigen Annexionspläne des zionistischen Kapitalismus haben den letzten Zweifel am reaktionären Charakter Israels beseitigt“10, mit denen sich der SDS zum Sechs-Tage-Krieg positionierte, muten in ihrer Radikalität und dem Aufgreifen des antisemitischen Stereotyps des „jüdischen Kapitals“ als diffuser Macht mit „Annexionsplänen“ befremdlich an. Diese sprachlichen Entgleisungen sollten sich im Folgenden noch verschärfen. So rief der SDS Frankfurt im Februar 1970 zum „Protest gegen den zionistischen, ökonomisch und politisch parasitären Staat Israel“ auf.11 Die Bezeichnung Israels mit der NS-belasteten Vokabel „parasitär“ ist ebenfalls klar als antisemitisch zu beurteilen.

Sinnbildlich für diesen radikalen Antizionismus steht auch die Vortragsreise des israelischen Botschafters Asher Ben-Natan an deutschen Universitäten 1969, die von Teilen der 68er-Bewegung massiv gestört wurde. Egal ob in Frankfurt, West-Berlin oder München: In den Hörsälen erklangen in aufgeladener Stimmung Sprüche wie „Zionisten raus aus Deutschland“.12 Ein Extrembeispiel bildete eine Tafel an der LMU München, auf der geschrieben stand: „Erst wenn in Israel in 50 Supermärkten Bomben explodiert sind, wird dort Frieden herrschen.“13 Derartige Parolen zur Vertreibung oder Vernichtung jüdischer Menschen erinnern an die Nazi-Zeit, die nur ein Vierteljahrhundert zuvor in die größte Katastrophe für jüdisches Leben in Europa geführt hatte. Und wenn Ben-Natan vor seinem Auftritt an der Uni Hamburg am 11.06.1969 auf linken Flugblättern als „Herrenmensch“ bezeichnet wurde14, stellt dies eine klassisch antisemitische Täter-Opfer-Umkehrung dar.

Blickt man auf den Kontext der genannten Aussagen, könnte man sie zwar eher als Ausdruck überschäumender propalästinensischer Begeisterung, denn als intrinsischen Antisemitismus der Akteure sehen. Auch wurde der Antizionismus der Gremien des SDS von der Mehrheit der 68er-Bewegung sicher nicht in seiner ganzen Radikalität geteilt. Gefährlich wurde dieser Antizionismus aber dadurch, dass man sich als internationalistische Linke von jedem Antisemitismusverdacht befreit sah.15 Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust innerhalb der 68er-Bewegung empfand einer ihrer führenden Köpfe, Rudi Dutschke, sogar als hinderlich für ihr Ziel: „Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen.“16 So muss man festhalten, dass zahlreiche Akteure der 68er-Bewegung, auch wenn sie sich niemals als Antisemiten bezeichnet hätten, zumindest unreflektiert antisemitische Stereotype weitertrugen.  

Nach dem Abflauen der 68er-Bewegung gingen deren Akteure unterschiedliche Wege. Einige wenige radikalisierten sich und ließen – wie Dieter Kunzelmann– in Bezug auf antisemitische Worte Taten folgen.17 Als Beispiel sei hier noch die Flugzeugentführung von Entebbe durch deutsche Linksterroristen im Verbund mit einem palästinensischen Kommando im Jahr 1976 genannt, in deren Verlauf es zur Selektion jüdischer und nichtjüdischer Passagiere kam.18 Der übergroße Rest der 68er begann hingegen während des „Marsches durch die Institutionen“ von radikalen Ansichten zum Existenzrecht Israels Abstand zu nehmen. So nahm beispielsweise Joschka Fischer 1969 als Mitglied im SDS an einer PLO-Konferenz in Algier teil, auf der zum „Endsieg“ über Israel aufgerufen wurde.19 Als wichtige Stimme bei den Grünen betonte er jedoch später immer stärker das Existenzrecht Israels. 2001 – mittlerweile deutscher Außenminister – vermittelte er in Zeiten höchster Spannung zwischenzeitlich zwischen Israel und den Palästinensern.20


6 Vgl. Käpernick, Thomas: Die Studentenrevolte von 1968. Vom Philosemitismus zum Antizionismus, in: Geliebter Feind, Gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. E. Kotowski, Berlin 2009, S. 439ff. Philosemitismus bezeichnet in diesem Kontext eine grundsätzlich wohlmeinende Haltung gegenüber Juden und dem Judentum.

7 Käpernick, Studentenrevolte, S. 447.

8 Vgl. zur Vorgeschichte des Krieges: Geipel, Ernst-Eberhard/ Landmann, Kamillo: Die Geschichte des Vierzigjährigen Krieges in Nahost, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 64-68.

9 Kraushaar, Bombe, S.16.

10 „Der Konflikt im Nahen Osten“, in: Die XXII. Ordentliche Delegiertenkonferenz des SDS (Resolutionen und Beschlüsse), Hrsg. Bundesvorstand des SDS, Frankfurt am Main o.J. [1967], S.48.

11 Kloke, Martin: Israel – Alptraum der deutschen Linken?, in:  L. Mertens (Hrsg.): Deutschland und Israel. Ausgewählte Aspekte eines schwierigen Verhältnisses, Berlin 2006, S. 157f.

12 Kraushaar, Bombe, S.86ff.

13 Ebd., S.102.

14 Ebd., S.96.

15 Weiß, Volker: „Volksklassenkampf“. Die antizionistische Rezeption des Nah-Ost-Konflikts in der militanten Linken der BRD, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXII (2005), S.218.

16 Zitiert nach: Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 211.

17 Vgl. zum militant linken Antisemitismus Kraushaar, Wolfgang: “Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?”. München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Hamburg 2013.

18 Weiß, Volksklassenkampf, S. 231.

19 Kloke, Alptraum, S. 157.

20 FAZ-Artikel vom 05.06.2001: https://www.faz.net/aktuell/politik/naher-osten-der-zufaellige-vermittler-fischer-verlaengert-die-waffenruhe-123359.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2020).

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