Autorin: Karla Kabot
Herrfurthplatz, Dienstagvormittag
Ich schließe mein Fahrrad an und wickle den Schal etwas enger um meinen Hals. Die Fahrt über das Tempelhofer Feld tat zwar gut, doch seit ein paar Tagen ist es wieder so kalt, dass sich meine Hände trotz Handschuhen regelmäßig zu Eisklötzen verwandeln. Es sind nur noch drei Tage bis zum Heiligabend und naiv träume ich von einer weißen Weihnacht. Ich blicke auf die Genezarethkirche vor mir. Als kleines Kind weigerte ich mich einen Kirchenraum auch nur zu betreten. Mein Vater vertrat mit einem Augenzwinkern die These, ich sei vom Teufel besessen. Mittlerweile machen mir Kirchenräume keine Angst mehr. Jedenfalls keine, die mich daran hindern würden, sie zu betreten. Ich bestaune (oder bemängle) Architektur und Kunst oder besuche einen Gottesdienst. Heute bin ich mit Susann Kachel verabredet. Sie ist Pfarrerin und leitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Jasmin El-Manhy das Segensbüro – einer Vermittlungsagentur für Segenswünsche.
Das Segensbüro gibt es seit Anfang 2021 und ist, neben dem spirituellen Start-up Spirit&Soul und dem Künstler:innen-Kollektiv pio_near, Teil des Projekts Startbahn, welches sich als kirchliches Experimentierfeld versteht und den Raum öffnet für Menschen und Initiativen, die an Spiritualität, Kunst und Politik interessiert sind. Träger des Projekts ist der Evangelische Kirchenkreis Neukölln in Zusammenarbeit mit den Kirchenkreisen Berlin-Stadtmitte und Tempelhof-Schöneberg.
Unter dem Motto Verbindung leben verkuppeln Susann und Jasmin Menschen und Pfarrer:innen miteinander. Um zu verstehen, wie solch ein „Dating-Prozess“ funktioniert und warum dieser überhaupt nötig ist, erklärt mir Susann zunächst das klassische Parochialsystem. Christ:innen, die Mitglieder einer Landeskirche der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) sind, gehören automatisch zu einer Kirchengemeinde, welche in der Regel durch ihren aktuellen Wohnsitz bestimmt wird. Doch viele Menschen haben keinen konkreten Kontakt zu eine:r Pfarrer:in oder wollen zum Beispiel gern woanders heiraten. In solch einem Fall oder wenn Menschen, Paare und Familien bestimmte Wünsche und Bedürfnisse haben, vermitteln Susann und ihre Kollegin diese mit Pfarrer:innen. Der zweite Schwerpunkt ihrer Arbeit stellt die Erfüllung und konkrete Umsetzung von Segenswünschen dar. Neben den drei Hauptkasualien Taufe, Trauung und Tod/Beerdigung, segnen Susann und ihre Kollegin alles, was dem Menschen gut tut oder wichtig ist. Das können wichtige individuelle Lebensschritte sein, Entscheidungen und Prozesse.
Gibt es etwas, was du nicht segnen würdest? frage ich Susann. Ja schon. Ich würde zum Beispiel keine Dinge segnen. Segnen ist in meinen Augen für Menschen da, beziehungsweise für alles, was lebendig ist.
In einem ersten Gespräch geht es darum, die Person und ihre Motivation, sich an das Segensbüro zu wenden, kennen zu lernen. Susann lässt viel Raum zum Erzählen, fragt aber auch nach. Was brauchst du an Stärkung und Unterstützung? Was tut dir gut? Was wünscht du dir?
Was ist ein Segen?
Segen sind für Susann Stärkungsworte. Einem Menschen zeigen und spüren zu lassen, dass dieser gesehen und wahrgenommen wird. Ein Wort im jeweiligen Moment, dass man nicht allein ist. Ein Schutzmotiv ohne Garantie und dennoch voller Wirkung. Ein Innehalten: was wünschen wir uns?
Das klingt schön, denke ich mir. Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Raum Kirche für mich bedeutet. In den vergangenen Jahren habe ich Kirchenräume eigentlich immer nur dann besucht, wenn es mir nicht gut ging. Ich war auf der Suche. Wonach, das wusste ich meistens nicht. Und gleichzeitig hatte ich Schuldgefühle. War es nicht irgendwie falsch, mich immer nur in Krisenmomenten dorthin zu begeben? Nur zu nehmen, statt auch zu geben? Auch durch das Gespräch mit Susann begreife ich, wie natürlich mein Impuls war. Und auch, dass Kirche, ob als Raum, als Institution oder als Gemeinschaft, genau das sein kann: Unterstützung und Verbindung zwischen Menschen.
Interdisziplinarität ist auch Verbindung leben.
Und Interdisziplinarität wird in der Verbindung aus Glauben, Kirche, Seelsorge und Therapie erfahrbar.
Im Gespräch mit Susann erlebe ich Kirche als einen freien und individuellen Raum. Doch sprechen wir über Realitäten oder doch eher Utopien? Vermutlich beides. Das Projekt Startbahn wird von dem Verein Andere Zeiten e.V. gefördert, ebenso wie dem Fonds Dritte Orte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Dritte Orte sind anders, heißt es auf der Website des EKBO, sie liegen quer zu gewohnten Formen von Gemeinden und sind oft institutionskritische Orte. Es gehe darum, Innovationsräume kirchlichen Lebens zu schaffen, die sich mit den Herausforderungen kirchlichen Alltags beschäftigen.
Apropos Herausforderung, arbeitest du eigentlich noch mit der Bibel, frage ich Susann. Ja und das kann belebend, aber auch herausfordernd sein. Manchmal frage ich mich, was kann das für mich bedeuten? Ich interpretiere die Geschichten und Texte als Pfarrerin des 21. Jahrhunderts und frage dementsprechend, was kann mir das heute noch sagen?
Das Gespräch mit Susann hat mir Antworten gegeben und gleichzeitig neue Fragen an mich selbst entstehen lassen. Was hilft mir und was tut mir gut? Was heißt es für mich, zu glauben? Und was bedeutet Glaube für mich? Ich weiß es nicht. Jedenfalls noch nicht. Und genau deshalb finde ich es so bereichernd, mit Menschen darüber zu sprechen und ihre Antworten zu hören.
Ich mache einen Anfang und beende das Interview, indem ich Susann frage, was glauben eigentlich für sie bedeutet?
glauben heißt wahrnehmen, dass ich in etwas Größeres eingebunden bin. In eine göttliche Kraft. In die Kraft der Liebe. In all jenes, was zwischen den Menschen ist und sein kann.
glauben ist Inspiration
glauben ist Sinnliche und Vergewisserung. Wo stehe ich gerade? Wovon lebe ich? Wer oder was sind meine Quellen?
Ich glaube, weil ich nicht alleine bin. Sondern verbunden mit den Menschen der Bibel und von heute.
Und was ist Glaube für dich, Susann?
Glaube ist mystisch und präsent.
Es kann verschiedene Orte des Glaubens geben.
Glaube ist das Gegenwärtige und die Frage, wer bin ich, wenn Gott ist. Glaube ist auch die Sehnsucht etwas zu finden, was einen begleitet.