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Wie werden Menschen, die mit uns und in unserer Nähe leben, entfremdet?

Von imaginären Burkas, dem Orient und … Billie Eilish? – Die Folgen des Schweizer Volksentscheids zum Verhüllungsverbot

Autorin: Sydney Noemi Stein

Die Schweiz, die illustre Eidgenossenschaft an Deutschlands südlicher Grenze, gilt in Europa als Sinnbild eines demokratischen Mehrvölkerstaates. Vier Nationalsprachen, Volksentscheide, internationaler Arbeitsmarkt. Die Schweiz begreift sich als Willensnation, die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt unter einer nationalen Identität zu vereinen vermag. Am 7. März 2021 entschieden die Bürger dieser Willensnation über einen Gesetzentwurf, der, wie vielleicht kein anderer, für polemische rechte Symbolpolitik steht, und die multikulturelle Willensnation zum Schafott führte. Die Rede ist vom „Burkaverbot“, oder „Verhüllungsverbot“, wie es offiziell genannt wird. Das Gesetz, welches bereits im Kanton Tessin im Juli 2020 in Kraft gesetzt wurde, sollte nun schweizweit eingeführt werden. Mit Erfolg. In einer Zeit, in der weltweit verpflichtende Mund-Nasen-Bedeckungen zum Schutz der Menschen getragen werden, entschieden 51% der Schweizer über ein perfides anti-islamisches „Verhüllungsverbot“.

Ich möchte in diesem Artikel auf Grundlage des Schweizer Verhüllungsverbots die Frage ergründen, wie Menschen, die mit uns und in unserer Nähe leben, entfremdet werden und damit die Absurditäten, Widersprüche und kolonialen Diskurse des Islamhasses entlarven.

Zunächst einmal Bestandsaufnahme: In der Schweiz leben laut Bundesamt für Statistik (Stand 2019) 390.000 Muslime und Musliminnen in der Eidgenossenschaft. Das entspricht 4,75% der Gesamtbevölkerung. Nur in Genf ist der prozentuale Anteil der Menschen muslimischer Konfession höher, nämlich etwa 7%. Doch der Volksentscheid kam nicht aus Genf, sondern aus dem Tessin, wo 1,5% der Menschen Muslime sind. Der Großteil der eingewanderten Muslimae stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien und die meisten der dreißig Niqabträgerinnen der Schweiz sind Konvertitinnen. Wo taucht die Burka auf, fragen Sie sich? Es gibt laut Zensus keine einzige Frau in der Schweiz, die Burka trägt. Gut, dass sich das „Egerkinger Komitee“ diesem drängenden Problem nationaler Sicherheit so ernsthaft annahm, und diesen imaginären Bösewichten schweizweit den Gar ausmachte.

Ironie beiseite, es handelt sich hier um platten Islamhass und laborreinen Rassismus, wie man ihn nicht besser karikieren könnte. Doch das Egerkinger Komitee scheint es zu können. Denn auf den Plakaten, mit denen für den Volksentscheid geworben wird, wird die Karikatur einer zornig blickenden, vollverschleierten Frau mit dem Slogan „Extremismus stoppen! Verhüllungsverbot Ja“ gezeigt. Wie es wohl sein muss, eine der dreißig, zudem noch größtenteils konvertierten Frauen, wahrscheinlich sogar Staatsbürgerin, zu sein und im ganzen Land Plakate zu sehen, die die eigene Identität als Bedrohung für die nationale Sicherheit brandmarken, nur damit danach die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung der Schweiz darüber entscheiden darf, ob sie sich nun verhüllen darf, oder nicht. „Extremismus stoppen“… Das Bild des gefährlichen Islam und der Körper der Frau als politisches Schlachtfeld ist keine Neuheit. Aber es lohnt sich, die Dynamiken dahinter zu ergründen. Grada Kilomba, portugiesische Autorin und Theoretikerin, definiert Rassismus in ihrem beeindruckenden Werk „Plantation Memories“ beispielsweise so:

„Within everyday racism one is used as a screen for projections of what the white society has made taboo. One becomes a deposit for white fears and fantasies from the realm of either aggression or sexuality“

(Grada Kilomba 2008: 44).

Lassen Sie uns dieses Zitat einmal zerlegen: der rassifizierte Mensch als Projektionsfläche weißer Tabus? Was sind denn die Argumente des Egerkinger Komitees, gegen welches Tabu verstößt denn eine Verschleierung laut der federführenden Kraft hinter diesem Verbot? „Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum steht in Konflikt mit freiheitlichem Zusammenleben: Unsere Werte werden mit Füssen getreten, wenn sich Frauen in unserer Gesellschaft nicht mehr als Individuen zu erkennen geben dürfen“. Aha. Frauen sind Individuen. Gut, dass die betroffenen Frauen auch beim Volksentscheid zu Wort gekommen sind, und nicht als extremistische Masse vereinheitlicht und deindividualisiert worden sind. Galgenhumor, nur so hält man es aus.

Weiterhin spricht Kilomba von „Weißer Angst und weißen Fantasien“, die entweder in Aggression oder Sexualisierung wiedergefunden werden. Das Egerkinger Komitee, das übrigens nur aus Männern besteht, präsentiert sich hier geschickt möchtegern-feministisch. Es gilt die Freiheit und Individualität der Frau zu schützen, lasset uns deswegen das hunderttausendste Verbot erlassen, um den Körper der Frau zu regulieren! Es wird genau jene sexistische Fantasie der unterdrückten, hilflosen, handlungsbeschränkten orientalischen Frau bedient, die von ihrem gefährlichen Macho-Ehemann und ihrer rückständigen Religion bevormundet wird. Und so etwas gibt es natürlich nicht im Westen. Aber „im Islam, ja, da hört man ja so einiges davon, ne!“

Doch diese Frauen werden auch nur bedingt als das gesehen, was sie sind, vorrangig gelten sie als potentiell gefährliche Extremistinnen. Es geht nicht um die „normalen“, „zivilisierten“ Frauen, ja es geht nicht einmal um den Menschen selbster, denn dieser wird zur Projektionsfläche der weißen Angst vor dem Islam und der Untergrabung angeblicher „westlicher Werte“.

„Decivilization: The Black subject becomes the personification of the violent and threatening Other- the criminal, the suspect, the dangerous- the one who is outside of the law“, so Grada Kilomba (2008: 44). Ein „bedrohliches Anderes“, das es zu regulieren gilt. Ab mit dem Niqab, rein ins Dirndl, denn nur dann sind Frauen frei. Diese kulturelle Hegemonie beruht auf Jahrhunderten von islamfeindlicher Wissenschaft und Propaganda. Orientalismus nennt das die Fachfrau. Die Konstruktion eines vermeintlich fremden, anderen, orientalen Raumes, der vom Westen aus studiert und reguliert werden kann und diesem dichotom als inhärent „anders“ gegenübersteht. Der Islam steht nicht im Gegensatz zum Christentum, sondern zur gesamten Idee „Westen“, „westliche Werte“, „freiheitlich-demokratisch”. Was damit gemeint ist, sind rassistische, pauschal akzeptierte, unreflektierte Werte unserer kolonialen aufklärerischen Vergangenheit.

Ein „konstituives Außen” wird zur Vereinheitlichung und Abgrenzung des Inneren genutzt, so Anna Daniel, Soziologin an der Fern Universität Hagen. Und wer formt dieses Außen? Naja, dassind die gewaltbereiten Muslime, die ihre Frauen unterdrücken, und mit denen möchten wir nichts zu tun haben. Das traurige dabei ist, dass dies nicht einmal meine eigene Analyse ist, sondern es so klar vom Egerkinger Komitee selbst formuliert wird: „Dies [das Verhüllungsverbot] ist ein klares Verdikt für ein friedliches Zusammenleben in unserer Gesellschaft, in der radikal-islamistisch und kriminell motivierte Verhüllung keinen Platz haben“, heißt es auf ihrer Webseite.

„Friedliches Zusammenleben“, das heißt hier ein Zusammenleben ohne Muslime. Und dabei geht es nicht mal um die vermeintlich dreißig Niqabträgerinnen, deren Existenz angeblich eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen, nein, mitgemeint in solchen Aussagen sind alle anderen 390.000 Muslime der Schweiz und weiterhin die gesamte muslimische Weltbevölkerung. Die Schweiz, diese Willensnation, in der nach Eigenaussage die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt unter einer nationalen Identität vereint wird, trägt mit dieser rassistischen, anti-muslimischen Propaganda zur gezielten Entfremdung ihrer Mitmenschen bei. Der Körper der muslimischen, hier Nniqabtragenden Frau, ist dabei nur politisches Spielfeld. Die sinnliche, orientalische Frau und der gefährliche, bis zu den Zähnen bewaffnete muslimische Mann, es klingt wie Disneys Aladdin, ist jedoch das traurige Erbe orientalistischer Entfremdung, Abwertung und perfider Entmenschlichung. 

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