Auch auf räumlicher Ebene kann sich das Verhalten des Einen an das des Anderen angleichen. Christian Norberg-Schulz schreibt: „Architectural space may be understood as a concretisation of environmental schemata or images, which form a necessary part of man’s general orientation or ‚being in the world‘“4. Der Mensch antwortet in seiner Gestaltung von Räumen auf seine Umgebung, die sich stets wandelt. Jeder Eingriff in die Welt wiederum erzeugt eine Veränderung des Raumes. Diese räumliche Veränderung kann zum einen auf politischer und auf kultureller Ebene erfolgen, zum anderen aber durch bauliche Interventionen im Sinne von infrastrukturellen Maßnahmen oder dem Errichten von Gebäuden. Alle Interventionen haben gemein, dass sie Auswirkungen auf den Raum haben und so auch das Verständnis vom Raum beeinflussen.
Dieser Gedanke findet seinen Kulminationspunkt in einer globalisierten Welt, in der sich alle Länder und Kulturen inter- und transnational beeinflussen. Siegfried Giedion schreibt über die heutige Architektur:
Nicht die einzelne ablösbare Form ist das Allumfassende der heutigen Architektur, sondern das Sehen der Dinge im Raum: die Raumkonzeption. […] Die raumzeitliche Konzeption, die Art, wie Volumen in den Raum gestellt werden und zueinander in Beziehung treten, die Art, wie der Innenraum sich vom Außenraum isoliert, oder wie er perforiert wird, um eine gegenseitige Durchdringung zu ermöglichen, all dies sind Gemeinsamkeiten, die der heutigen Architektur zugrunde liegen.5
Giedion setzt voraus, dass es einen Konsens darüber gibt, welche Eigenarten die heutige Architektur besitzt. Dabei geht er davon aus, dass das Stadium der Verschränkung von Außen und Innen dieselbe bestimmt. Ein solcher Konsens kann nur durch einen Austausch entstanden sein: durch freiwillige wie durch erzwungene Angleichungen des Raumverständnisses.
Eine konkrete räumliche Intervention bedarf keines kolonialen Impetus. Sie kann auch ökonomisch oder künstlerisch motiviert sein. Dennoch ist sie ein Eingriff, sofern sich zwei Parteien voneinander unterscheiden, von denen die eine das Geschehen, das die andere umgibt, verändert. Mit einem Gebäude, das in dem Raum des Anderen errichtet wird, trägt der Eingreifende Auffassungen vom Leben bzw. vom Zusammenleben über die Grenze des Eigenen hinaus. Das kann unter Einwilligung einer oder vieler Menschen geschehen, die betroffene Mehrheit bleibt jedoch außen vor. Sofern der Raum des Anderen nicht genau kopiert wird, hat eine räumliche Intervention Konsequenzen und wird politisch.
Zwei Fragen:
1. Inwieweit neigen die Intervenierenden dazu, die Betroffenen zu kopieren?
2. Inwieweit neigen die Betroffenen dazu, die Intervenierenden zu kopieren?
Hier muss spezifiziert werden, dass der Begriff der Kopie den Impetus eines geplanten Vorhabens in sich trägt. Geplant kann die Kopie von Räumen und Strukturen sein, jedoch muss dies nicht der Fall sein. Eine Partei kann eine andere Partei auch unbewusst kopieren, wenn zuvor erfolgte Eingriffe bereits das Verständnis der Menschen von Raum, Gesellschaft und Politik verändert haben.
Politisch motiviert sind die Kopien, wenn sie gezielt geschehen. So können die Intervenierenden ihre gebauten Räume und Strukturen den Räumen und Strukturen des Anderen anpassen und unterschwellig ihre eigene Ideologie verbreiten. Oder aber die Partei, dessen Raum verändert wurde, kopiert die räumlichen Interventionen mit Absicht und erschafft so Karikaturen derselben, wodurch beide Parteien ihre Positionen hinterfragen können. Die Intervenierenden werden dann, wie von Bhabha beschrieben, mit einer verzerrten Darstellung ihres narzisstischen Selbst konfrontiert. Die Betroffenen wiederum werden aufmerksam auf das Ausmaß der Interventionen.
Autor: Johannes Güssefeld
4 Norberg-Schulz, Christian: Existence, Space & Architecture. USA 1971, S. 7.
5 Giedion, Siegfried: Raum. Zeit. Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel 2015, S. 24.
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