Die antisemitische Codierung der Drahtzieher:innen
„Der ‚Große Austausch‘ beschreibt als Begriff einen Prozess und einen Akt. Er verweist damit notwendig auf den Akteur, den ‚Austauscher‘“ schreibt der Sprecher der rechtsextremen Identitären Bewegung, so Martin Sellner.2 Sein Feindbild: Verweiblichte Männer, „Multikultipropagandist:innen“, migrationsfreundliche Parteien, Intellektuelle und eine „dekadente“ Kulturindustrie, die angeblich einem „Schuldkult“ fröne. Diese Schlussfolgerung ist nur konsequent, denn wo eine Verschwörung vermutet wird, ist die Frage „wer steckt dahinter? der logische nächste Denkschritt. In der Erzählung vom „Bevölkerungsaustausch“ sind es die inneren Feinde, die „Volksverräter:innen“, die den drohenden Untergang herbeiführen wollen.
„Aber es gibt keine Antisemiten mehr“, beginnen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das siebte, nachträglich verfasstes Kapitel ihrer „Elemente des Antisemitismus“.3 Was sie damit meinten: Der zuvor offene Vernichtungsantisemitismus äußerte sich nach 1945 vermehrt in latent antisemitischen Codes und verklausulierten Äußerungen. Ähnlich verhält es sich bei der oft vagen und diffusen Beschreibung der Drahtzieher:innen hinter der angeblichen Verschwörung des „Bevölkerungsaustausches“: Zuweilen ist von abstrakt skizzierten „Eliten“ die Rede, mal von „unchecked Corporations“ (C.) oder schlicht „X“ (T.), dann von Multikultipropagandist:innen oder Kulturmarxist:innen. An anderer Stelle werden sie direkt benannt: Jüdisch codierte und konnotierte „Eliten“ seien die angeblichen Lenker:innen des „großen Austausches“, die „inneren Feinde“. Damit werden uralte antisemitische Vorurteile bedient: Die „dekadenten“, liberalen Eliten werden als wurzellos, kosmopolitisch, intellektuell, geheimnisvoll und mächtig, wohlhabend und einflussreich – also überlegen –, aber körperlich schwach und hinterhältig dargestellt. Sie verwischen die Grenzen des Eindeutigen und stehen wurzellos zwischen den „angreifenden Invasoren“ und dem „guten Volk“. Dieses „Volk“ wiederum sei ein „ehrenhaftes“, das ehrlich und hart arbeitet, in der eigenen Nation tief verwurzelt ist und keine Angst vor direkter Konfrontation hat – aber von eben jenen hinterhältigen Eliten bedroht wird, weil die angeblich im Hintergrund an dessen Vernichtung arbeiten. Aus diesem Grund überrascht die Zielauswahl des Halle-Attentats ebenso wenig, wie der Angriff auf die Chabad-Synagoge im kalifornischen Poway. Die mal mehr, mal weniger offen geäußerte antisemitische Codierung der angeblichen Drahtzieher:innen ist essentieller Bestandteil der Erzählung vom „Bevölkerungsaustausch”.
Das rassistische Feindbild der „Invasoren“
Das dritte wesentliche Feindbild sind Nichtweiße und/oder Angehörige von Kulturen und/oder Ethnien, die als „fremd“ markiert werden.. In der Gegenwart und im Narrativ des „Bevölkerungsaustausches“ sind das oft muslimisch markierte Menschen: Sie werden im Kontrast zu den Drahtzieher:innen als animalische Eindringlinge skizziert: Angeblich körperlich stark, aber geistig minderwertig. Sie seien triebgesteuerte „Invasoren“, die lediglich auf Morden und Vergewaltigen aus sind und daher zum dritten Hauptfeind erklärt werden müssten. Das illustriert auch ein Drohbrief, der im Juni 2019 am Gedenktag des NSU-Nagelbombenanschlags in Köln-Mühlheim auftauchte, und mit „Atomwaffen Division Deutschland“ unterschrieben war.4
„Moslems in Deutschland! Eure Invasion in unser Land wird scheitern. Das deutsche Volk wacht auf und wir erkennen immer klarer, dass ihr Feinde seid, und uns hasst. Ihr seid das willfährige Werkzeug der Juden, um Deutschland und Europa zu zerstören. Deshalb ist jeder einzelne von euch ein legitimes Ziel“, so hieß es dort.
Auch der Christchurch-Attentäter Brenton T. stellt muslimische Menschen als „Werkzeug“ größerer Mächte dar. Seinen Massenmord rechtfertigte er mit den Worten, im Zuge einer Invasion gebe es keine „unschuldigen Invasoren“. Hier wird noch einmal die perfide Täter:innen-Opfer-Umkehr deutlich: Brenton T. sieht sich als Opfer des „Bevölkerungsaustausches“ und damit als „Angegriffener“, der im Zuge der Selbstverteidigung und im „Namen des Guten“ zur Waffe greift. Dieser Logik folgten alle Rechtsterroristen im Jahr 2019, sie ist impliziter Teil der Erzählung vom „großen Austausch“.
Autor: Benjamin Hindrichs
2 Sellner, Martin: Der Große Austausch in Deutschland und Österreich: Theorie und Praxis, in: Renaud Camus, Revolte gegen den Großen Austausch, Schnellroda 2017, S. 203-207
3 Adorno, Theodor W./Horkheimer Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 209
4 Deutsche Welle: Drohungen gegen Muslime in der Keupstraße in Köln, in: Deutsche Welle, 08.06.2019, [online] https://www.dw.com/de/drohungen-gegen-muslime-in-der-keupstra%C3%9Fe-in-k%C3%B6ln/a-49109856 (letzter Zugriff: 21.04.2020)
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