Autor: Johannes Güssefeld
Stalker (Alexander Kaidanowsk), seine Frau (Alissa Freindlich) und ihre Tochter Monkey (Natasha Abramova) liegen im Bett. Die Kamera schwebt behäbig über ihre Gesichter hin zu einem Stuhl, der mit einem Glas Wasser, Tabletten, Spritzen, Watte, einem zerknüllten Papier und einem angebissenen Apfel drapiert ist. Das Rattern eines Zuges lässt die Utensilien erbeben. Tarkowskis fünfter Film Stalker (1979) erzählt von einem Mann, der entgegen den Mahnungen seiner Frau wieder einmal in die Zone am Rand der Stadt aufbricht. Sie zu betreten ist streng verboten und kaum möglich. Es ist ein bewachter Ort – fern jeder Zivilisation, verlassen und längst von der Natur zurückerobert. Wie sie entstand, weiß man nicht. Lediglich Gerüchte und verwaiste Panzer, Pistolen, Münzen und Spritzen zeugen von der Vergangenheit.
Die Berufung Stalkers ist es, Menschen in diese Zone zu bringen. Hier soll es einen Raum geben, der alle Wünsche erfüllt. Die neuen Anwärter: ein Schriftsteller (Anatoli Solonizyn) und ein Professor (Nikolai Grinko), deren Berufe, wie der des Stalkers, zu ihren Namen werden. Beide gehen die Reise rational an. Schriftsteller glaubt nicht an Telepathie, Gespenster und UFOs, und im Grunde auch nicht an die Zone. Langeweile und die Sehnsucht nach Erfolg treiben ihn an. Professor glaubt ebenso wenig an Magie. Er glaubt an die Wissenschaft.
Stalker:
„Wie still! Das ist der stillste Ort der Welt. Ihr werdet es sehen. Hier ist es so schön. Hier gibt‘s niemanden.“
In der Zone fühlt sich Stalker frei. Hier ist er zu Hause. Er tritt auf als mythische, fast religiöse Figur: ein Führer, der als einziger die Gesetze der Zone kennt und die Suchenden zu ihrem Ziel bringen kann. Ebenso ungreifbar wie Stalker selbst erscheint die Zone. Wird sie betreten, wechselt der Sepia-Ton in eine fast ölige Farbigkeit. Das Wasser der Sümpfe, das hohe Gras und die Ruine erscheinen erhaben und fremd, als entstammten sie einer vergessenen Welt.
Hier ragen Strommasten wie Kreuze aus dem Boden, ein Jesusbild liegt neben einer Pistole auf dem Grund des Wassers, Schriftsteller setzt sich eine Krone aus Zweigen auf. Solch christliche Symbole zeugen von einer Welt des Glaubens und des Leidens. Im Zentrum dieser Welt liegt der besagte Raum. Dort geschieht das Wunder. Er ist die Klimax. Wer diesen Raum betritt, glaubt an sie, glaubt an das Unfassbare und Unsichtbare. Der Weg dorthin jedoch kann und darf nicht einfach sein.
2. Korinther, 4:16-18:
Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
Ihr Auto und eine Draisine lassen Stalker, Professor und Schriftsteller zurück. Seine ungeschickten Begleiter ahnen mehr und mehr, dass die Zone anders als alles ihnen Bekannte ist. Und dennoch verstehen sie in den Augen des Stalkers nichts. Am Ende betreten sie den Raum nicht. Schriftsteller hat Angst, zweifelt an dem Wunsch, ein Genie zu sein wie überhaupt an seinen Wünschen. Auch zweifelt er daran, ob sie erfüllt werden. Professor will den Raum gar die Luft jagen, weil, wie er sagt, dessen Kraft missbraucht werden könnte.
Der Weg zum Raum und zum Wunder ist ein Weg des Leidens. Eine einfache Route ist zu gefährlich. Mehrfach werden sie von den Mächten der Zone verwirrt und zurückgeworfen. Dass Professor und Schriftsteller den Raum am Ende nicht betreten, ist für Stalker der endgültige Beweis für ihr Unverständnis. Er allein glaubt an den Raum. Wieder zu Hause klagt er über den Unglauben der beiden und fragt: „Können denn solche Typen an irgendwas glauben?“ Seine Frau antwortet kurz darauf in einer Liebeserklärung an Stalker: „Ich wusste, wir würden auch leiden. Aber ein bitteres Glück ist besser als ein graues, fades Leben. […] Ohne Leid und Not wäre unser Leben nicht besser. Es wäre schlimmer. Denn es gäbe dann kein Glück. Es gäbe dann keine Hoffnung“
Andrei Tarkowski:
Wir schauen nur, aber wir sehen nicht
Stalkers Leidensweg ist Spiegelbild des Kunstschaffenden, der sich aufopfert, um nach der Wahrheit zu suchen. Er glaubt an sein Werk und daran, dass es Menschen verändern kann, indem es neue Perspektiven schafft. Tarkowski entzieht sich also dem konventionellen filmischen Erzählen, um einen anderen Blick auf die Welt zu schaffen. Zugleich ist Stalkers Leidensweg Spiegelbild des Zuschauers, der sich die Mühe macht, das Werk zu verstehen. Gerade aus diesem Grund soll sich der Künstler aus der Sicht Tarkowskis seinem Publikum nicht anpassen. Das Publikum soll ergründen, hinterfragen und, im Glauben an das Wunder, den Raum betreten.
Am Ende sieht man Monkey, die Tochter von Stalker, zunächst mit ihren Eltern, dann allein an einem Tisch sitzend. Sie erscheint als einzige Figur außerhalb der Zone in Farbe. Auf dem Tisch vor ihr stehen drei Gläser. Sie hebt den Blick von ihrem Buch und beginnt, sie telekinetisch zur Tischkante zu bewegen. Nun ist doch ein Wunder geschehen. Es scheint als liege der Glaube im Kind, in dessen Fantasie und, wie der Name Monkey ausdrückt, in der Natur. In ihr lebt die Zone weiter. So endet Stalker zuletzt als hoffnungsvoller Film, als Hymne an das Leben, den Glauben und die Kunst.