Wenn man in Berlin am Abend eines letzten Freitags im Monat mit mehreren hundert oder tausend anderen Radfahrer*innen um die Siegessäule radelt, ist man sehr wahrscheinlich Teil der Critical Mass (CM). Wenn man dann noch ein Gewaber acht verschiedener Musikrichtungen hört, vermischt mit dem Gehupe angepisster Autofahrer, keinen Plan hat, wo es als nächstes lang geht und sich trotz zwei Paar Socken die Zehen abfriert, weil man schon drei Stunden durch halb Berlin gegurkt ist, nur um sich dann von einem barfüßigen Fixie-Fanatiker überholen zu lassen, dann ist man garantiert Teil der Critical Mass.
Rückverfolgen lässt sich das Konzept der CM nach San Francisco 1992. Der Begriff Critical Mass lässt sich zum einen als Menge von Elementen, die für einen Kippmoment oder selbstlaufenden Prozess benötigt werden (z.B. Physik oder Verhaltensökonomie) und zum anderen als Kritik übende Menschenansammlung verstehen. Von San Francisco aus hat sich die CM international verbreitet und findet sowohl in Metropolen wie Hongkong, Sydney, Istanbul, Paris oder Berlin, als auch in kleineren Städten, wie Düren oder Göttingen, statt. Bis auf die Grundidee sind die lokalen CMs aber nicht miteinander verbunden: Die Critical Mass ist kein Franchise.
Ermöglicht wird die Berliner CM durch ein Organisationsprinzip, dass als Xerokratie bezeichnet wird. Dieser Begriff ist nicht sehr geläufig und auch vielen Teilnehmenden unbekannt. Gemeint ist damit Organisation durch Kopie beziehungsweise Wiederholung. So hat die Critical Mass keine vorgeplante Route. Stattdessen entscheidet immer der*diejenige, der*die vorne fährt, wo es als nächstes lang geht. Der Rest folgt. Fahren die Vordersten in unterschiedliche Richtungen, setzt sich der Weg durch, der am öftesten kopiert, also gefahren wird. Da prinzipiell jede*r Teilnehmende vorne fahren könnte, gehen viele von einer demokratischen Routenwahl aus. Allerdings hat der*die hinterste Radfahrer*in sehr viel weniger Einfluss als die*der Vorderste.
Der Wegwunsch des*r Letzten spielt für die Gruppe keine Rolle, da er nicht wahrgenommen und deshalb nicht kopiert werden kann. Gleichheit besteht also nur in der Möglichkeit vorne zu fahren, die konkreten Routenentscheidungen erfolgen aber xerokratisch, nicht demokratisch. Auch was die Critical Mass eigentlich ist, wird xerokratisch definiert. Jeder (ob Teilnehmer oder nicht) darf seine Vorstellung in Umlauf bringen. Die Interpretation, die am häufigststen kopiert bzw. verbreitet wird, setzt sich durch. Da es einfacher ist Deutungen in Umlauf zu bringen, als sie wieder zu entfernen, gibt es viele verschiedene Interpretationen. Häufig wird die Critcal Mass mit einer Demonstration verglichen. Dies suggeriert politische Widerständigkeit. Der Critical Mass das Ziel zugeschrieben, sich gegen die Vorherrschaft des Autos zu wenden, indem die teilnehmenden Radfahrer*innen den Verkehr dominieren und Autofahrer*innen in ihrem Fortkommen behindern. Andere Interpretationen verstehen die CM eher als Großgruppenfahrradtour mit dem Ziel, den Teilnehmenden möglichst viel Spaß zu bereiten. Gleichzeitig beziehen sich viele Teilnehmer*innen der CM auf den § 27 der StVO, laut dem „mehr als 15 Rad Fahrende […] einen geschlossenen Verband bilden“. Für einen solchen Verband gelten besondere Verkehrsregeln, so dürfen zwei Radfahrer*innen nebeneinander fahren und ausgewiesene Radwege müssen nicht benutzt werden. Überquert die Spitze des Verbandes eine Kreuzung bei Grün, folgt der gesamte Verband, auch wenn die Ampelfarbe gewechselt hat. Einerseits hebt der juristische Rahmen die von manchen postulierte Widerständigkeit auf, indem man sich entsprechend den Verkehrsregeln verhält. So können auch diejenigen mitfahren, die gar nicht »wirklichen« Widerstand leisten wollen. Andererseits entsteht eine Widerständigkeit im doppelten Sinn, da sich die CM nicht nur der Dominanz des Autos widersetzt, sondern sich auch noch der konventionellen Form politischen Protestes (Demonstration) entzieht. Diese subversive Widerständigkeit wird jedoch von der permanenten Polizeipräsenz ad absurdum geführt. Die xerokratische Organisation ermöglicht der Critical Mass eine hierarchiefreie Struktur. Es gibt keine Anführer*innen, Sprecher*innen oder Vertreter*innen, Keine Idole oder Held*innen. Die Critical Mass wird durch Nichts und Niemanden repräsentiert. Jede Fahrt steht und entsteht für sich. Niemand kann festlegen, was die CM ist oder was ihre Ziele sind. Die Critical Mass kann mit ihrer situativen Organisation keine gemeinschaftlich verbindlichen Pläne bilden und umsetzen. Xerokratisch können die Teilnehmer*innen zu keiner Handlung verpflichtet werden. Es bleiben immer passive Teilnehmer*innen – nicht aktive, gestaltende Mitglieder. Es gibt keine Agenda, keine Ziele, keine Entwicklung. Die Critical Mass kann keine Verkehrspolitik betreiben. Mit der CM kann man nicht verhandeln. Sie ist ein Phänomen, kein Subjekt.
Autor: Eduard von Borries